Westerbork

4. März 2024

Das Polizeiliche Judendurchgangslager Westerbork war in den deutsch besetzten Niederlanden eines der beiden zentralen Durchgangslager (KZ-Sammellager), von wo aus niederländische oder sich in den Niederlanden aufhaltende deutsche Juden in andere Konzentrationsund Vernichtungslager deportiert wurden. In den Niederlanden ist der Begriff Kamp W. bzw. Concentratiekamp W. verbreitet. Vor der Nutzung als KZ hatten die Niederländer hier in der >Provinz Drenthe aus dem Reich geflüchtete Juden interniert.

Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Niederlande am 10. Mai 1940 wurde Kamp Westerbork im Rahmen der Besatzungspolitik weiter genutzt. Soweit sie sich meldeten oder festgenommen wurden, kamen alle in die Niederlande geflohenen jüdischen Deutschen und Österreicher hierher in Haft. Am 1. Juli 1942 wurde dann aus dem bisher niederländisch verwalteten Zentralen Flüchtlingslager Westerbork offiziell das „polizeiliche Judendurchgangslager Kamp Westerbork“ unter direkter deutscher Verwaltung. Kurz danach begannen am 15. Juli die Deportationen aus den gesamten Niederlanden ins Durchgangslager Westerbork, wo die SS fast alle Transporte zusammenstellte, und von dort weiter in die Vernichtungslager. Neben den überwiegend jüdischen Lagerinsassen wurden auch „Zigeuner“ und Widerstandskämpfer im Lager festgehalten. Fast alle wurden mit dem Zug abtransportiert. Anfänglich stiegen die Gefangenen am Bahnhof Hooghalen aus und liefen die sieben Kilometer lange Strecke zum Lager. Ab Oktober 1942 baute Nederlandse Spoorwegen ein Anschlussgleis ins Lager, das dieses mit der  Bahnstrecke Meppel–Groningen verband.

100.000 Juden, Sinti und Roma wurden aus Westerbork in die Konzentrations- und Vernichtungslager in den Osten deportiert. Darunter auch jüdische Mitbürger aus Freren und Umgebung. Für die jüdische Geschichtswerkstatt „Samuel Manne“ organisiert der Kulturkreis impulse eine Fahrt zur Gedenkstätte. Es wird eine Führung angeboten und auch der eigenständige Besuch der Ausstellungen sind geplant.

Busfahrt zur Gedenkstätte Westerbork
Freren – ab: Alte Molkerei
Mittwoch, 13. 03. 2024, Abfahrt: 10 Uhr, Rückkehr: ca. 16 Uhr

Eine Anmeldung ist unbedingt erforderlich: 05902/93920
Mit Hilfe von Sponsoren ist die Busfahrt kostenfrei.


Foto: Denkmal Lager Westerbork, ZikoEigenes Werk, CC BY-SA 3.0

Die  Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen hat etwas dazu geschrieben, dass für nicht wenige das Weihnachtsessen zu teuer wird:

„Weihnachten ist das Fest der Familie und des guten Essens. Doch Lebensmittel sind im Vergleich zum Oktober 2021 um durchschnittlich 27 Prozent teurer geworden. Viele Menschen werden derzeit nachrechnen, ob sie sich die Klassiker des Weihnachtsessens überhaupt noch leisten können. Selbst die Zutaten für Kartoffelsalat mit Würstchen sind im Einkaufspreis stark gestiegen. Warum die Lebensmittelpreise sich von der allgemeinen Verteuerung entkoppelt haben, ist nur schwer nachvollziehbar. Die Verbraucherzentrale NRW fordert deshalb eine Monitoringstelle für mehr Transparenz im Lebensmittelhandel.

Bei vielen Verbraucher:innen laufen in der Adventszeit die Planungen für das Weihnachtsfest. Die meisten Menschen freuen sich besonders auf das Weihnachtsessen mit den Liebsten, doch wegen der immer noch hohen Lebensmittelpreise könnte das in diesem Jahr für viele zu teuer werden. Die Verbraucherzentrale NRW hat sich angeschaut, wie sich die Preise für Zutaten typischer Weihnachtsgerichte in den vergangenen zwei Jahren verändert haben. Die Daten des Statistischen Bundesamtes und der Agrarmarkt Informations-Gesellschaft (AMI) zeigen: Verbraucher:innen müssen in manchen Fällen bedeutend tiefer in die Tasche greifen als in den Vorjahren.

Preisvergleich seit Oktober 2021 für typische Weihnachtsgerichte
Über die Weihnachtstage kommen bei vielen Menschen vor allem Klassiker auf den Tisch: Würstchen mit Kartoffelsalat, Raclette, Rinderrouladen mit Klößen und Rotkohl. Aber auch Plätzchen, Lebkuchen, Stollen & Co. gehören zum Fest. „Bei unserem Vergleich legen wir nicht nur die Preissteigerungen für die typischen Zutaten im Jahr 2023 zugrunde. Vielmehr schauen wir uns die Preisentwicklung rückwirkend seit Oktober 2021 an, weil die Lebensmittelpreise in diesem Zeitraum besonders stark gestiegen sind. Die Einkaufsrealität der Verbraucher:innen kann man nur so korrekt abbilden“, erklärt Silvia Monetti, Leiterin des Teams Ernährungsarmut bei der Verbraucherzentrale NRW. „Die Lebensmittelteuerung hat sich zwar verlangsamt, doch die Lebensmittelpreise verharren auf einem sehr hohen Niveau. Das wird für immer mehr Menschen zu einem großen Problem.“

Die Ergebnisse im Einzelnen
Sämtliche untersuchten Zutaten sind im Zweijahresvergleich der Oktoberpreise gestiegen. 2023 kosteten beispielsweise Kohlgemüse und Butter jeweils 29,5 und 12,6 Prozent mehr als im selben Monat 2021. Deutsche Markenbutter kostete im Oktober 2023 durchschnittlich 1,45 Euro je 250 Gramm. Wurstkonserven waren im Vergleich zum vergangenen Jahr um 15,4 Prozent teurer, im Zweijahresvergleich sogar um 34,6 Prozent. Sie kosteten im Oktober 2023 im Durchschnitt 9,13 Euro je Kilogramm. Vegane Wurstalternativen sind ohnehin deutlich teurer, dafür müssen Verbraucher:innen 2023 durchschnittlich 13,45 Euro je Kilogramm zahlen. Auch Kartoffeln und Weizenbrot sind in den vergangenen zwei Jahren deutlich im Preis gestiegen: Im Oktober 2023 kosteten diese Lebensmittel 33,8 Prozent bzw. 26,9 Prozent mehr. Zucker ist im Vergleich zu 2021 um 74,6 Prozent teurer geworden und kostete im Oktober 2023 1,45 Euro pro Kilo. Für Margarine zahlten Verbraucher:innen 2023 zwar nur 8,1 Prozent mehr als vor einem Jahr, aber 50,8 Prozent mehr als 2021. Für das Plätzchenbacken unverzichtbar ist zudem Weizenmehl. Im Oktober 2023 kostete es 69,6 Prozent mehr als vor zwei Jahren. Im Vergleich zum Vorjahr dagegen „nur“ 24,5 Prozent mehr.

Woher kommen die Preissteigerungen?
Auch wenn die Inflationsrate aktuell deutlich gesunken ist, sind die Preise für Lebensmittel im Jahr 2023 erheblich gestiegen. „Die Gründe dafür sind vielfältig: Gestiegene Kosten für Energie und Importgüter, Arbeitskräftemangel und höhere Personalkosten, der Klimawandel und Ernteausfälle – aber auch versteckte Preiserhöhungen sowie Mitnahmeeffekte durch Unternehmen in der Nahrungsmittelbranche“, erläutert Monetti. Die Lebensmittelteuerung habe sich bereits im März 2023 von dem Trend der gesamten Inflation abgekoppelt, Nahrungsmittel seien seitdem deren Haupttreiber. Im Oktober kosteten sie rund 27 Prozent mehr als vor zwei Jahren.

Starke finanzielle Belastung vor allem am Jahresende
Wegen der hohen Inflation ist die Kaufkraft 2022 deutlich gesunken. Zeitgleich stiegen die Energiekosten und vielerorts die Mieten. In Deutschland sind aktuell über 14 Millionen Menschen von Armut betroffen oder bedroht. „Rund 40 Prozent der Bevölkerung hat hierzulande so gut wie keine Ersparnisse, um die Teuerungen auszugleichen“, so Monetti. „Viele Verbraucher:innen schauen daher mit Sorge auf das Ende des Jahres, wenn nicht nur Geschenke und gutes Essen auf der Wunschliste stehen, sondern auch Zahlungen für Versicherungen, Abos oder Ähnliches fällig werden.“

Verbraucherzentrale NRW fordert mehr Transparenz
Bisher gibt es keine Transparenz über die Preisbildung von Lebensmitteln. Damit sind auch einzelproduktbezogene Aussagen über Preisentwicklungen kaum möglich. Deshalb fordert die Verbraucherzentrale NRW die Einrichtung einer Monitoringstelle für Lebensmittelpreise. „Die Untersuchung von auffälligen, nicht nachvollziehbaren Verbraucherpreisen konkreter Produkte und Marken ist überfällig“, unterstreicht Silvia Monetti. „So könnte man auch Mitnahmeeffekte unterbinden. Zudem sollten nicht nur Sonderangebote, sondern auch Preiserhöhungen für Verbraucher:innen klar erkennbar werden – am Regal und in der Werbung. Damit wären versteckte Preiserhöhungen vom Tisch.“

Weiterführende Infos und Links:

Die Debatte zur sogenannten Schuldenbremse nimmt Fahrt auf, und das ist bitter notwendig. Nicht wenige halten diese, so euphemistisch formulierte Maßnahme –ich zitiere Marcus Höfgen– für die dümmste aller Regeln, die aber 2009 mit Zweidrittelmehrheit von CDUCSUSPD ins Grundgesetz gegossen wurde. Der damalige SPD-Finanzminister Peer Steinbrück war übrigens seinerzeit die treibende Kraft für den Bund, Horst Seehofer für die Länder. Übrigens: Die FDP enthielt sich damals, weil ihr die Schuldenbremse für die Länder noch nicht streng genug war. Finanzpolitik für die FDP machte damals der heutige Verkehrsminister Volker Wissing.

In seiner Rede im Bundestag nannte Steinbrück die Schuldenbremse eine „finanzpolitische Entscheidung von historischer Tragweite“. Damit hat er jetzt Recht behalten.  Als Begründung für die Schuldenbremse sagte Steinbrück auch, dass Deutschland „in einem Schraubstock der Verschuldung“ stecke. „Der steigende Schuldenstand und die steigende Zinslastquote verkarsten den Bundeshaushalt zusammen“. Um die Zinsen zu senken, müsse Deutschland das Vertrauen der Finanzmärkte zurückgewinnen. Im Wortlaut, der auch so heute von Christian Lindner gesprochen wird, klang das so: „Wir müssen auch den Finanzmärkten ein Signal geben, dass in Deutschland eine solide Haushaltspolitik betrieben wird“.

Und jetzt haben wir den Salat: Denn das Bundesverfassungsgericht hat die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse auch noch ausgesprochen restriktiv ausgelegt. Daher fällt sie jetzt  unserem ganzen Land auf die Füße, und kluge Leute in der Politik wie anderswo suchen einen Ausweg. Schleswig-Holstein hat Donnerstag die haushaltspolitische Notlage beschlossen,  Ministerpräsidenten der CDU stellen die Bremse in ihrer konservativen Auslegung in Frage. Und Grüne, Gewerkschaften und Steinbrücks SPD sehen entsetzt, welchen Stillstand sie bedeutet. Tatsächlich macht es einen großen Unterschied, ob mit Schulden Umbau- und Infrastruktur-Investitionen für Jahrzehnte bezahlt werden oder bspw. nur die Fußball-EM im nächsten Jahr. Also muss diese Zukunftsbremse geändert werden.

Auch juristisch äußert sich Kritik. In einem Beitrag für den renommierten Verfassungsblog kritisieren jetzt der Jurist Lukas Märtin und der Wirtschaftswissenschaftler Carl Mühlbach die Gerichtsentscheidung als „Katalysator der Polykrise“, denn die verfassungsgerichtliche Überprüfung sei ein Hindernis für die politische Gestaltungskraft. Hier der Text, den ich mit einem  energischen „Lesebefehl!“ für diesen Novembersonntag schmücke:

„Am 15. November 2023 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zum ersten Mal über die Vorschriften der Schuldenbremse im Grundgesetz entschieden. Das Gericht erklärte das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 für unvereinbar mit dem Grundgesetz (GG) und daher nichtig. Das nun ergangene Urteil verdeutlicht erneut, dass die aktuelle Ausgestaltung des Staatsschuldenrechts in eine finanzrechtliche, vor allem aber finanzpolitische Sackgasse führt. So setzt sich im Urteil durch die restriktive Auslegung der Schuldenbremse die Entpolitisierung des parlamentarischen Haushalts- und Budgetrechts, die „Königsdisziplin des Parlaments“, fort. Daneben beschränkt das Urteil auf erhebliche Art und Weise die Handlungsfähigkeit des Staates und versetzt auch der Wehrhaftigkeit der Demokratie einen Dämpfer. Letztlich ist die Schuldenbremse, wie sie sich nun durch das Urteil darstellt, ein Todesstoß für politisches Denken in langfristigen Zusammenhängen – obgleich dieser Gedanke vom BVerfG erst vor zwei Jahren im sogenannten Klima-Beschluss prominent angebracht wurde.

Zwischen politischer und gerichtlicher Verantwortung

Die ersten Reaktionen in der Öffentlichkeit bewerten das Urteil teilweise als konsequente Ausbuchstabierung der Idee, die der Schuldenbremse zugrunde liegt. Andererseits wird auch das Potenzial des Urteils hervorgehoben, politische Dynamiken für eine Verfassungsänderung anzuschieben. Beiden Ansichten liegt die Annahme zugrunde, dass die Verfassungswidrigkeit des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes, beschlossen im Februar 2022 mit rückwirkender Geltung ab dem 1. Januar 2021, von vornherein klar gewesen ist und dass das Gericht faktisch gezwungen war, den Fall so zu entscheiden und zu begründen, wie es dies nun getan hat. Demnach läge die vollständige Verantwortung für die faktischen Konsequenzen, die sich aus dem Urteil ergeben, beim Verfassungsgeber – und damit der Politik.

Dies ist schon deswegen abwegig, weil – wie [Verfassungsrichterin] Doris König bei der Urteilsverkündung selbst sagte – das Gericht terra incognita betrat, als es nun zum ersten Mal die Vorschriften der Schuldenbremse, insbesondere Art. 109 und 115 GG interpretierte. Abgesehen davon beinhaltet das Urteil weitgehende Feststellungen, die für die bloße Verfassungswidrigkeit des Nachtragshaushaltsgesetzes nicht strikt notwendig gewesen wären und daher die eigenständige Bedeutung der Interpretation des Gerichts hervortreten lassen. Während der Vorwurf des haushälterischen Taschenspielertricks in Hinblick auf die „Umgehung“ der Schuldenbremse durch den rückwirkenden Nachtragshaushalt politisch sicherlich gewisse Überzeugungskraft besitzt, trifft das auf die rechtliche Einordnung nicht zu. Herauszuarbeiten, welche Haushaltsmanöver eine Umgehung, ein unzulässiges „Austricksen” der Schuldenbremse darstellen, ist genuine Aufgabe des Gerichts, das den Anwendungsbereich der Vorschriften nun konkretisiert und restriktiv gestaltet hat. Lediglich auf die Verantwortung des Verfassungsgebers, der die Schuldenbremse selbst im Grundgesetz verankert hat, zu verweisen, greift also zu kurz.

Nachträgliche Symptombekämpfung statt präventiver Krisenabwendung

Die Systematik der Schuldenbremse hält den Gesetzgeber dazu an, politische Ziele im Regelfall ohne Schulden zu erreichen. Dabei ist – aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht –  die Ausgabe von Staatsanleihen ein so sinnvolles wie übliches Instrument zur Staatsfinanzierung. Umsichtige Finanzpolitik strebt keine Schuldenfreiheit, sondern ein vernünftiges Maß an Schulden an  – im Gegensatz zur derzeitigen Ausgestaltung der Schuldenbremse, welche dem Staat nur in Ausnahmefällen Kreditaufnahmen in nennenswertem Umfang gestattet. Diese Ausnahmefälle befinden sich in Art. 115 II 6 GG. Demnach kann die Schuldenbremse im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, ausgesetzt werden.

Das BVerfG verlieh dieser Voraussetzung in seinem Urteil Konturen und stellte, bis auf die Einschätzung der erheblichen Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage, alle Merkmale unter vollständige verfassungsgerichtliche Kontrolle (Rn. 115). Mit Blick auf die Konstruktion der Notlage fällt auf, dass Kreditaufnahmen immer nur re-aktiv möglich sind. Das Kind muss also schon in den Brunnen gefallen sein, bevor der Gesetzgeber mit Hilfe von Kreditaufnahmen tätig werden darf. Ein aktives und präventives Vorgehen gegen vorhersehbare Krisen ist ohne Kredite zu tätigen. Die Schuldenbremse zwingt den Staat mithin gewissermaßen, Krisen eskalieren zu lassen, bevor Maßnahmen per Kreditaufnahme getätigt werden dürfen. Im Hinblick auf die Klimakrise entpuppt sich die Gefahr dieser Logik. Auf eine „Naturkatastrophe” im Sinne des Art. 115 II 6 GG dürfte der Staat mit Kreditaufnahmen reagieren. Unter Berücksichtigung der Erwägungen des Senats wäre beispielsweise ein Ereignis wie die Flut im Ahrtal eine solche Naturkatastrophe. Für die Bekämpfung der Ursache, die vielen Naturkatastrophen zugrunde liegt, der Klimakrise, darf der Staat allerdings keine Kredite verwenden, was geradezu paradox anmutet.

Ein im Ergebnis effizienteres Vorgehen hatte bereits das BVerfG selbst in seinem Klima-Beschluss von 2021 angemahnt. Unter dem Stichwort des intertemporalen Freiheitsschutzes nahm das Gericht damals erstmals eine intergenerationelle Perspektive ein und schrieb vor, dass Freiheitschancen der künftigen Generation durch engagierte Klimapolitik in der Gegenwart erhalten werden müssen. Der Zweite Senat schien nun nicht bereit zu sein, an die grundsätzlichen Erwägungen des Ersten Senats aus 2021 anzuknüpfen. Berücksichtigt man, dass das aktuelle Urteil sich mit Ausgaben zur Bekämpfung der Klimakrise auseinandersetzt, wäre es nicht abwegig gewesen, eine Auslegung des Staatsschuldenrechts im Lichte des Art. 20a GG vorzunehmen, wie auch Lennart Starke vorschlägt.

Langfristige Transformation versus Jährigkeit der Schuldenbremse

Neben der Auslegung der Notlagenklausel gem. Art. 115 II 6 GG beschäftigte sich das Gericht weiterhin damit, inwiefern allgemein anerkannte Grundsätze der Haushaltspolitik Teil des grundgesetzlichen Staatsschuldenrechts sind. Hervorzuheben ist dabei aus einer finanzpolitischen Perspektive der Grundsatz der Jährigkeit. Zunächst hielt das BVerfG fest, dass die Jährigkeit vollständig überprüfbarer Teil des Staatschuldenrechts im Grundgesetz ist (Rn. 155), welche nur in eng begrenzten Ausnahmefällen durchbrochen wird (Rn. 160). Dieser Grundsatz zwingt den Gesetzgeber und die Exekutive, in einem bestimmten Jahr vorgesehene Kreditermächtigungen auch vor Ablauf eben dieses Jahres tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Andernfalls entfällt die Ermächtigung ersatzlos. Sinn und Zweck dieses Grundsatzes sei es, eine „Lastenverschiebung in die Zukunft” zu verhindern (Rn. 162). Konkret soll verhindert werden, dass Notlagen benutzt werden, um den haushaltspolitischen Spielraum kommender Jahre über einen “Vorrat” an Kreditermächtigungen zu erweitern.

Die politische Übersetzung dieses Gedankens lieferte kurz nach der Urteilsverkündung sodann auch der ehemalige Kanzleramtsminister Helge Braun, indem er festhielt, dass es wichtig sei, den kommenden Generationen genügend finanziellen Spielraum zu belassen, um unter anderem die Anpassung an den Klimawandel zu bewältigen. Auch hier wünschte man sich, dass die Erwägungen des Ersten Senats aus dem Jahr 2021 Eingang in politische und verfassungsrechtliche Reflexionsprozesse nehmen würden.

Es bleibt nämlich zu bezweifeln, wie sinnvoll eine Fiskalregel ist, die den Gesetzgeber daran hindert, die Klimakrise in der Gegenwart mithilfe von Krediten adäquat zu bekämpfen, lediglich um kommenden Generationen „finanziellen Spielraum” für die Anpassung an eben jenen nicht hinreichend eingedämmten Klimawandel zu belassen.

Bemerkenswert ist…“

[weiter im Verfassungsblog]


Foto: Roben im Bundesverfassungsgericht, CC s. den Blog-Beitrag vom 26.02.2012

Deutschland hat seine Einsparziele bei Erdgas nicht erreicht.  Im Vergleich zum Durchschnitt in den vergangenen vier Jahren ist der Erdgasverbrauch 2022 hierzulande zwar um 14 % deutlich zurückgegangen. Geplant waren aber 20 %. Die Bundesnetzagentur sagte gestern, es sei zwar „viel“ gespart worden. Der Chef der Regulierungsbehörde, Klaus Müller, hatte die Latte mit Minus 20 % aber deutlich höher gelegt, um eine Mangellage in diesem Winter zu verhindern. 

Die EU-Staaten hatten sich zudem im Sommer darauf geeinigt, ihren Gasverbrauch zwischen dem 1. August 2022 und dem 31. März 2023 freiwillig um 15 % gegenüber ihrem Durchschnittsverbrauch der vergangenen fünf Jahre zu senken. Dieses Ziel könnte Deutschland angesichts der wieder milder gewordenen Temperaturen möglicherweise noch erreichen, es dürfte aber auch hier knapp werden. So sparten Industrie, Gewerbe und Haushalten etwa in der Kalenderwoche 48 von Ende November bis Anfang Dezember, als es vergleichsweise kalt zu werden begann, nur rund 13 % gegenüber dem durchschnittlichen Verbrauch der vorigen vier Jahre ein.

Die offiziellen Daten der Netzagentur für das ganze Jahr 2022 zeichnen dieses Bild: Die Industrie schaffte res, ihren Gasverbrauch gegenüber den Vorjahren um 15 % zu reduzieren. Private Haushalte und Gewerbebetriebe sparten 12 % ein. In den Monaten Oktober bis Dezember lag der Verbrauch der Industrie insgesamt sogar 23 % und der von Haushalten und Gewerbe 21 % unter den Vorjahren.

Einen großen Einfluss auf den Gasverbrauch hatten – welch‘ Überraschung!- die Temperaturen. Sie halfen generell, den Verbrauch im Vergleich zu den Jahren 2018 bis 2021 zu mindern. Im Mittel lagen die Temperaturen 2022 1,1 Grad Celsius über dem Durchschnitt der vier Vorjahre, im Oktober sogar 2,3 Grad. Der Dezember war dagegen mit einer Durchschnittstemperatur von 1,8 deutlich kälter als in den Vorjahren (1,4 Grad unter dem Mittel).

Putins Uran

10. November 2022

Ungeachtet der völkerrechtswidrigen russischen Invasion in der Ukraine steuert das russische Atomschiff „Mikhail Dudin“ von St. Petersburg aus erneut den Hafen Rotterdam an. es transportiert angereichertes Uran. Seit Dienstag liegt das 26 Jahre alte Uranschiff allerdings an der Nordspitze Dänemarks vor Skagen auf Reede, informiert die Marine-Website Laut der Marine-Website Vesselfinder. Laut  shiptracker war  die Ankunft in Rotterdam für heute morgen  6 Uhr geplant. Aber das Schiff liegt weiter an Dänemarks Nordspitze vor Anker.

Umweltorganisationen aus den Niederlanden, Deutschland und Russland befürchten, dass sich an Bord erneut angereichertes Uran aus Russland wieder -wie zuletzt bereits im September-  für die Brennelementefabrik Lingen im Emsland befindet, das nach dem Anlanden dann per LKW nach Lingen transportiert wird. Heute führten die Umweltorganisationen daher ab 12 Uhr eine Mahnwache vor der Brennelementefabrik in Lingen durch. Anwesend war dabei auch der Träger des Alternativen Nobelpreises, Vladimir Slivyak, sein. Er arbeitet für die in Russland verfolgte Umweltorganisation Ecodefense.

Slivyak erklärte: „Die europäischen Länder sind gefährlich abhängig von russischen Uranlieferungen. Das Geld, das dafür an Vladimir Putin bezahlt wird, verwandelt sich in Bomben, Panzer und Raketen, die in der Ukraine eingesetzt werden. Es ist für Europa auch ein Sicherheitsproblem, sich derart abhängig von russischen Uranlieferungen zu machen. Die Atomgeschäfte mit dem Putin-Regime müssen sofort gestoppt werden.“

Die Umweltorganisationen kritisieren insbesondere die Regierungen in Paris, Berlin und Den Haag: „Während das russische Militär in der Ukraine bewusst die Energieversorgung der Menschen dort zerstört, beharren Frankreich, Deutschland und die Niederlande darauf, ausgerechnet mit dem Kreml-Konzern Rosatom weiter Atomgeschäfte zu machen. Das ist zynisch und ein Schlag ins Gesicht der leidenden Bevölkerung in der Ukraine. Rosatom ist dort unter anderem aktiv an der Besatzungsverwaltung des militärisch besetzten AKW Saporischschja beteiligt,“ sagte heute Matthias Eickhoff vom Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen.

„Dieser Urantransport ist auch eine erste Bewährungsprobe für die neue rot-grüne Landesregierung in Hannover. Im Koalitionsvertrag steht, dass Hannover auf ein Ende der russischen Uranimporte „drängt“. Stephan Weil und Julia Hamburg müssen Kanzler Scholz sowie Umweltministerin Lemke nun umgehend zum Handeln bewegen. Die Zeit der Ausreden ist abgelaufen,“ ergänzte Alexander Vent vom Lingener Bündnis AgiEL – Atomkraftgegner:innen im Emsland.

Da das russische Atomschiff bereits weniger als 48 Stunden vom Zielhafen in Rotterdam entfernt ist, haben die Umweltorganisationen heute nochmals an das Bundesumweltministerium geschrieben, um Auskunft und einen Stopp der Urangeschäfte zu erreichen. Beim letzten Urantransport Ende September hatte das Bundesumweltministerium jedoch noch 24 Stunden vor Ankunft des Urans in Lingen wahrheitswidrig jegliche Kenntnis abgestritten. Deshalb fordern die Organisationen ein Ende der Verschleierungstaktik in Berlin.

Die Brennelementefabrik im Stadtteil Lingen-Darme gehört bekanntlich zum staatlichen französischen Atomkonzern Framatome, eine Tochter des französischen Stromkonzerns EdF. Die Umweltorganisationen vermuten, dass das Uran letztlich für Brennelemente bestimmt ist, die von Lingen aus an die Schweizer AKW Leibstadt, Beznau und/oder Gösgen geliefert werden. Die dortigen AKW-Betreiber haben Lieferungen aus Russland zugegeben, Gösgen wurde zudem mindestens bis 2012 aus Russland via Lingen beliefert.

Für alle drei Schweizer AKW wurden in den letzten Wochen und Monaten entsprechende Brennelement-Exportgenehmigungen des deutschen Bundesamtes BAFA ausgestellt.

„Wir fordern zudem von der niederländischen Regierung, dass sie die Nutzung der niederländischen Häfen für russische Atomschiffe ab sofort untersagt. Urangeschäfte mit Russland sind aktive Hilfe für Putins Kriegskasse. Atomenergie bringt keine Energieunabhängigkeit,“ so Dirk Bannink von der Laka in Amsterdam. Die Laka hatte die aktuellen niederländischen Uran-Transitgenehmigungen für Rosatom und Framatome im Sommer öffentlich gemacht. Demnach sind bis 2025 noch insgesamt 43 Urantransporte von Russland via den Niederlanden nach Lingen geplant.

„Es wird also nun wieder rot-grün in Niedersachsen! Vielleicht wird es dann auch endlich einmal was mit der Reform des deutschen Strommarktes. Denn der ist wirklich obskur, wie folgende Darstellung vermittelt:

Niedersachsen ist in puncto Windenergie Vorreiter in Deutschland, im flächenmäßig zweitgrößten Bundesland stehen mit 6.119 Windrädern deutschlandweit die meisten Onshore-Windanlagen. Sie tragen einen großen Teil dazu bei, dass der Anteil erneuerbarer Energien am Stromverbrauch des Bundeslandes seit Jahren kontinuierlich steigt und 2020 sogar an der 100-Prozent-Marke kratzte.

Wirtschaftlich nutzt das den Niedersachsen aber herzlich wenig. Das liegt unter anderem an Bayern: Weht viel Wind im Norden, fallen am Spotmarkt die Preise, manchmal sogar unter null Euro.Wer Strom an der Börse kauft, bekommt dafür dann sogar Geld. Im Süden Deutschlands gibt es viele Unternehmen, die viel Strom verbrauchen, aber leider nur wenige Leitungen, die den Windstrom aus Niedersachsen in den Süden transportieren können. Die Kunden im Süden kommen an den billig eingekauften Windstrom „physisch“ gar nicht ran, er fließt einfach nicht so umfangreich von Nord nach Süd, weshalb im Süden Deutschlands die Gas- (oder andere Fossil-)Kraftwerke anspringen müssen, um den „billig“ eingekauften Strom auch tatsächlich liefern zu können. Und weil ins Stromnetz immer nur so viel Strom eingespeist werden kann, wie verbraucht wird, müssen in Niedersachsen die Windräder angehalten werden: Die Fossilanlagen im Süden „verstopfen“ das Stromnetz.

Energiewende obskur: Weht viel Wind, steigt in Deutschland die Treibhausgasproduktion. Zu allem Unbill zahlen wir Verbraucher doppelt: den Fossilstrom, der im Süden produziert wurde, und den Windstrom, der nicht eingespeist wurde. Denn die Windmüller genießen einen Einspeisevorrang.

Grund für diese Schieflage ist erstens der schleppende Ausbau der Windenergie im Süden Deutschlands. Grund zwei ist ein Einheitspreis auf dem Strommarkt: Seit Jahren wird eine Aufteilung in eine Nord- und eine Südzone in Deutschland diskutiert, die dafür sorgen könnte, dass Niedersachsen endlich auch einmal vom kostengünstigen Windstrom profitiert. Springen die Gas- (oder andere Fossil-)Kraftwerke im Süden nämlich nachfragegetrieben an, steigt der Strompreis sofort wieder an, allein deshalb, weil die Gas- (oder andere Fossil-)Rohstoffe derzeit ungeheuer viel Geld kosten.

Ungewöhnlich sind mehrere Marktpreisgebiete in einem Land nicht: Norwegen zum Beispiel hat fünf Zonen, Schweden vier. „Mit der Auftrennung von Marktgebieten gibt es zudem bereits Erfahrung“, schreibt der von mir hochgeschätzte Fachjournalist Bernward Janzing in der taz, „2018 wurde die bisher einheitliche Strompreiszone von Deutschland und Österreich geteilt, nachdem sie zu immer stärkeren Verwerfungen im Marktgeschehen geführt hatte“. Eine Nord- und eine Südzone in Deutschland würde den Strompreis im Norden drastisch senken, im Süden – also dort, wo der kostenlose Wind so wenig genutzt wird – deutlich erhöhen.

Wäre wie Doping für die Energiewende im Stromsektor. Also bitte Niedersachsen: Helft! Lass den Bayernurban ruhig schwurbeln! Dieses Wahlergebnis macht euch stark! Oder wie es die Anti-Atom-Organisation ausgestrahlt formuliert:

„Statt den Weiterbetrieb gefährlicher AKW vorzubereiten, sollte Habeck besser den Markt der Physik anpassen und Stromexport nur noch in dem Maße erlauben, in dem auch Leitungen dafür zur Verfügung stehen.“

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Ein Beitrag von Nick Reimer auf der piqd-Website.

Piqd [pɪkt] (abgeleitet von „hand-picked“ – handverlesen) ist eine gemeinnützige Kurations-Plattform in deutscher Sprache, die von der Schwingenstein Stiftung gGmbH betrieben wird.

Auf der Plattform empfehlen nicht Algorithmen, sondern journalistische Kuratoren Inhalte aus online verfügbaren Publikationen. Sie verfassen dazu kurze Begleittexte, in denen sie Besonderheit und Relevanz der Empfehlung deutlich machen. Somit ist piqd ein Gegenentwurf zur vor allem auf Reichweiten abzielenden Verbreitung medialer Inhalte in sozialen Netzwerken sein und soll „Raum für eine ausgeruhtere Debatte“ bieten. Ich empfehle ein Abo. (Quelle wikipedia)

Foto: AKW Emsland in Lingen („KKE“), ein Foto von © dendroaspis

 

„Heiter weiter“

20. Februar 2022

Das Groninger Erdgas wird auch im Lingener RWE-Gastkraftwerk zu Strom verfeuert. Die Folgen sind nicht ohne (hier…). Dies als Erklärung, weshalb der sarkastische Beitrag in der freitäglichen heute-show nicht nur witzig (gemacht) ist.

Wir erfahren: In und um Groningen gibt es 27.000 Häuser mit Erdbebenschäden. Wegen des Gases, das eben (auch) an uns geliefert wird. Das deutsche Fazit „Heiter weiter“ bringt’s trotzdem auf den Punkt. Oder?

D 2045

3. Oktober 2021

Positive Visionen sind viel wert in Zeiten, wo Zynismus herrscht: Im Jahr 2045 ist die Energiewende umgesetzt. Deutschland lebt und wirtschaftet klimaneutral. Die Erneuerbaren decken den gesamten Energiebedarf: für unsere Mobilität, für unsere Wärme und auch für die Energie in unseren Betrieben. An jedem Tag des Jahres und bei jedem Wetter. Eine machbare Utopie.

„Sechzig Jahre ist es nun her, dass die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei ein knappes Dokument unterzeichneten, das die Entsendung von türkischen Arbeitskräften regelte. Was damals kaum jemand ahnte: Dieses Anwerbeabkommen vom 30. Oktober 1961 sollte unser Land verändern“ – mit diesen Worten von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beginnt das 250 Seiten starke Buch „Wie Deutschland zur Heimat wurde“.

Es wird am 5. Oktober 2021 zum 60. Jubiläum des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens von Herausgeber Özcan Mutlu in Zusammenarbeit mit CORRECTIV veröffentlicht. Die aufwendige Anthologie stellt 27 außergewöhnliche Biographien von Menschen vor, deren Lebenswege enorm durch das Abkommen geprägt wurden.

In „Wie Deutschland zur Heimat wurde“ erzählen die Kinder der einstigen Gastarbeiter in persönlichen Essays ihre Geschichte selbst. Es sind Erfolgsgeschichten von Kindern, die in der Schule wegen ihres Vornamens und ihrer Herkunft ständig geringgeschätzt wurden, während ihre Eltern bei Ford am Fließband schufteten. Ihre Namen sind Uğur Şahin und Özlem Türeci, Aygül Özkan und Belit Onay, Damla Hekimoglu und Ali Güngörmüş, Yasemin Karakaşoğlu und Ali Lacin. Sie bereichern heute unter anderem als Erfinderinnen des Corona-Impfstoffs, als Politiker auf kommunaler wie Bundesebene, als Ärztinnen, Sterneköche, Journalistinnen und Sportler unser Land und unsere Gesellschaft. Ihre Geschichten sind überraschend und berührend, sie erzählen von Ungerechtigkeiten und Widerständen, von persönlichen Tragödien und prägenden Momenten und haben dabei eines gemeinsam: Sie machen Mut. Denn während ihre Eltern in Schächten, Gießereien und Fabriken schufteten, wurden ihre Kinder gegen alle Widerstände Oberbürgermeister, Professorinnen, Unternehmer und Ministerinnen.

Herausgeber des Buches „Wie Deutschland zur Heimat wurde“ ist Özcan Mutlu, ehemaliges Mitglied des Deutschen Bundestages, der selbst im Alter von fünf Jahren mit seiner Familie nach Berlin kam. Das Buch ist eine besondere Herzensangelegenheit für ihn: „Die Geschichte der ersten Gastarbeitergeneration ist die von Kämpferinnen und Helden. Das 60. Jubiläum des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens ist ein guter und geeigneter Anlass, die Geschichten ihrer Nachkommen, der neuen Deutschen, (wieder) zu erzählen. Es sind herzzerreißende Geschichten von Ablehnung und Ausgrenzung, von Misserfolgen und Enttäuschungen, aber auch von Mut und Zuversicht, von Kampfeswillen und großartigen Erfolgen. Diese vielfältigen Biografien zeigen, wie reich und vielfältig unser Land dank des Abkommens vom 30. Oktober 1961 geworden ist.“

Die Fotografien im Buch stammen größtenteils von CORRECTIV-Fotograf Ivo Mayr, der zuletzt die Wanderausstellung und das Buch „Menschen – Im Fadenkreuz des rechten Terrors“ bebilderte, die zurzeit durch die Bundesrepublik tourt.

Zum 60-jährigen Jubiläum des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens wird es am 5. Oktober 2021 um 17:30 Uhr einen Festakt im Haus der Kulturen der Welt in Berlin geben. Zu diesem Anlass wird das Buch „Wie Deutschland zur Heimat wurde“ vorgestellt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird eine Festrede halten, außerdem wird die Ausstellung „Viel erlebt, viel geschafft … viel zu tun! – Geschichten aus der Migrationsgesellschaft“ des Dokumentationszentrums über die Migration in Deutschland (DOMiD) feierlich eröffnet. Das musikalische Rahmenprogramm gestaltet Nedim Hazar mit seinem Projekt „Deutschlandlieder“.

Wie Deutschland zur Heimat wurde: 60 Jahre Deutsch-Türkisches Anwerbeabkommen
Hardcover, 250 Seiten, 20 €
ISBN: 978-3-948013-15-8

(Quelle: PM Correctiv))

Bleiberecht!

21. März 2021

Die Forderung nach einer großzügigen Bleiberechtsregelung für Menschen, die seit Jahren in Deutschland leben und längst Teil der Gesellschaft geworden sind, finden immer größere Unterstützung. Auch die vom Niedersächsischen Landtag gegründete Kommission zu Fragen der Migration und Teilhabe hat sich nun eindeutig positioniert und fordert ein weitreichendes Bleiberecht.

Am 9. März 2021 hat die Kommission zu Fragen der Migration und Teilhabe ohne Gegenstimmen ein Forderungspapier an die Landesregierung verabschiedet, das die Landesarbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtsverbände (LAG FW), der Flüchtlingsrat Niedersachsen und kargah e.V. (Verein für interkulturelle Kommunikation, Flüchtlings- und Migrationsarbeit)) gemeinsam eingebracht haben.

Die Forderungen der Landtagskommission

  • ein stichtagsunabhängiges Aufenthaltsrecht für alle Menschen, die seit fünf Jahren in Niedersachsen leben
  • eine Liberalisierung der bestehenden Bleiberechtsregelungen
  • eine systematische Beratung und Unterstützung aller potenziell anspruchsberechtigten Geflüchteten durch die Behörden unter Beteiligung der NGOs nach dem Beispiel des WIB-Projekts.

Unter anderem fordert die Kommission ein Absenken der Anforderungen an Einkommen, Sprachkenntnisse und Identitätsnachweise sowie eine Heraufsetzung der Altersgrenze für ein Bleiberecht von Jugendlichen und Heranwachsenden von 21 auf 27 Jahre. Statt einer „Duldung“ sollten Auszubildende und Beschäftigte eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Darüber hinaus sollten alle bestehenden Regelungen entfristet und von restriktiven Erteilungsbedingungen befreit werden. Unter indirekter Bezugnahme auf den Fall der Farah Hareb (Demir), die seit 34 Jahren in Deutschland lebt und als Corona-Krankenschwester arbeitet, aber noch immer keine Aufenthaltserlaubnis erhalten konnte, fordert die Landtagskommission, dass langjährig hier lebende Menschen, die bereits in Deutschland geboren bzw. aufgewachsen und hier sozialisiert sind, ein bedingungsloses humanitäres Bleiberecht wegen faktischer Verwurzelung in Deutschland erhalten müssen.

Zur Untermauerung ihrer Forderungen verweisen die Verbände unter Bezugnahme auf die vom niedersächsischen Innenministerium präsentierten Zahlen auf die desaströse Umsetzung der bisherigen Bleiberechtsregelungen:

  • Rund zwei Drittel der Geduldeten (10.194 Menschen) lebt seit über vier Jahren in Deutschland.
  • 3.519 Menschen (17%) leben seit mehr als 6 Jahren mit einer Duldung in Deutschland, 2.245 Menschen (über 10%!) lebt mit einer Duldung seit mehr als 8 Jahren in Deutschland. Aber nur 668 Menschen haben bislang ein Bleiberecht nach §25b AufenthG erreichen können.
  • 1.014 in Deutschland sozialisierte Kinder und Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren leben seit 4-8 Jahren in Deutschland, ohne über ein Bleiberecht zu verfügen. Dagegen haben lediglich 946 Kinder und Jugendlichen bislang eine AE nach §25a Abs. 1 AufenthG erhalten.
  • 282 in Deutschland geborene Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren haben bislang kein Bleiberecht erhalten und verfügen nur über eine Duldung. Ihnen droht weiterhin die Abschiebung, obwohl sie in Deutschland sozialisiert und aufgewachsen sind und das Herkunftsland ihrer Eltern aus eigener Anschauung meist nicht kennen.
  • 132 Menschen leben seit über 30 Jahren (!) mit einer „Duldung“, d.h. ohne ein Aufenthaltsrecht, in Niedersachsen.

Die beteiligten Organisationen erwarten nun, dass sich sowohl die niedersächsische Landesregierung als auch alle Landtagsfraktionen dieses wichtigen Themas annehmen und sich für eine weitreichende und liberale Bleiberechtsregelung einsetzen.

Weitere Informationen:

Entschließung der Kommission zu Fragen der Migration und Teilhabe, Bleiberecht für langjährig hier lebende Menschen, 9. März 2021
Flüchtlingsrat Niedersachsen/LAG FW/kargah, Begründung des Antrags, 16. Februar 2021
Nds. Innenministerium, Schriftliche Unterrichtung durch die Landesregierung, 1. Februar 2021