Rechtspopulisten gewinnen

17. März 2023

Bernhard Barkmann, bekannter regionaler Blogger und Landwirt aus Messingen, twitterte gestern früh, er habe Caroline van der Plas, Vorsitzende der BBB, vor sieben oder acht Jahren kennen gelernt. Sie sei für ihn „ein absolutes Vorbild! Sie und ihre Bewegung BBB in die rechte Ecke zu framen und Populismus vorzuwerfen, ist falsch.“ Tja, so geht es natürlich auch. Ein  Kennenlernabend und die politische Analyse aller anderen ist falsch. 

Warum ich das schreibe? In den benachbarten Niederlanden hat es bei den Provinz- und Kommunalwahlen am Mittwoch eine dramatische Niederlage der regierenden Mitte-rechts-Koalition von Ministerpräsident Mark Rutte gegeben. Ihre vier Parteien  verloren nicht nur in den 12 Provinzen des Landes deutlich, sondern auch in der Ersten Kammer des nationalen Parlaments, in etwa eine Länderkammer wie der deutsche Bundesrat. Dort haben sie wohl nur noch über knapp ein Drittel der Mandate. Das ist weit entfernt von der für Gesetzesbeschlüsse notwendigen Mehrheit. Zuletzt war Rutte bereits nach einer kritischen parlamentarischen Anfrage zu Erdbeben, die durch Gasförderungen in der nördlichen Provinz Groningen verursacht werden, unter Druck geraten. Überhaupt sind nach Umfragen nur noch 20 Prozent der Bürgerinnen und Bürger zufrieden mit der Arbeit seiner Regierung – der schlechteste Wert seit einem Jahrzehnt.

Gestern kommentierten die niederländischen Zeitungen das Wahlergebnis denn auch über eine „Abrechnung mit der Regierung Rutte“ und den „historischen Denkzettel“.

Überragender Sieger ist die gerade einmal drei Jahre alte, rechtspopulistische Bauer-Bürger-Bewegung mit eben der genannten Vorsitzenden Caroline van der Plas und der einprägsamen Abkürzung BBB. Als BBB vor zwei Jahren erstmals bei den Parlamentswahlen antrat,  erzielte sie gerade einmal ein Prozent der Stimmen  und einen Sitz im Parlament in Den Haag, den seither Frau van der Plas einnimmt. Nach den vorläufigen Endergebnissen der Provinzwahlen dieser Woche ist die BBB in vielen Provinzen mit Abstand und auf Anhieb stärkste politische Kraft. Die Partei profitierte von der Wut der Bauern und der Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger. BBB wurde nämlich nicht nur in ländlichen Gebieten wie die benachbarten Provinzen Overijssel und Drenthe sehr stark, sondern überraschend auch in vielen Städten.

Die BBB gilt in ihren Positionen als konservativ bis rechtspopulistisch. Programmatisch konzentriert sie sich vor allem auf landwirtschaftliche Themen und Umweltpolitik. So ist die BBB etwa für die Einschränkung von Naturschutzgebieten, gegen den Ausbau von Sonnen- und Windenergieanlagen und für Atomenergie. Die Protestpartei BBB vertritt nach den Worten der erwähnten Vorsitzenden Caroline van der Plas „die Bürger, die nicht gehört werden“. Der große Wahlsieg sei ein Signal an Den Haag: „Sie können uns nicht länger ignorieren. Wir werden mitregieren.“

BBB gewann in der Ersten Kammer 17 der 75 Mandate; unter den neuen Parlamentariern ist auf Platz zwei der Wahlliste  der 26jährige Luuk Buunk aus Enschede. BBB ist damit gleichstark wie die PvdA-Sozialdemokraten und GroenLinks, die erstmals mit einer gemeinsamen Liste antraten, aber keine Gewinne erzielten. Die mitregierenden CDA-Christdemokraten verloren dagegen fast die Hälfte ihrer Mandate.

Die Konflikte traten noch in der Wahlnacht deutlich zutage. D66, die einzigeie linksliberale Regierungspartei, sagte, dass sie an der „progressiven Agenda“ etwa beim Klimaschutz und in der Landwirtschaft festhalten werde. Wahlsieger BBB hingegen forderte, dass von der Regierung geplanten Eingriffe in die Intensivlandwirtschaft vom Tisch müssten.

Hauptthema bei diesen Wahlen waren die angekündigten einschneidenden Umweltauflagen für die Landwirtschaft. Die Koalition will -auch in der Folge höchstrichterlicher Urteile- den vil zu hohen Stickstoff-Eintrag bis 2030 drastisch reduzieren. Die Maßnahmen werden das Ende für ein knappes Drittel der Viehbetriebe bedeuten, schätzt die Regierung Rutte. Seit Monaten protestieren deshakb Bauern -auch mit Gewalt – gegen die Pläne. Ihre Wut wurde aber zum Ausdruck einer allgemeinen Unzufriedenheit.

Großer Verlierer ist das rechtsextreme Forum für Demokratie. Noch vor vier Jahren war das FvD, die Partei von Putin-Freund Thierry Baudet, überraschender Wahlsieger, doch schnell  brach sie nach internem Streit auseinander. Das Forum verlor quasi folgerichtig 13% von seinen 2019 errungenen 16%. Auch Rechtspopulist Geert Wilders mit seiner PVV verlor Wähler an die BBB. Viele rechte Wähler wechselten in Scharen zum BBB, dem nächsten Rechtspopulisten.

Rechtspopulistische Parteien beherrschen in den einst so liberalen Niederlanden seit über 20 Jahren die nationale Debatte, und sie werden immer größer. Auch das Wahlergebnis vom 15. März zeigt, dass Wut und Unzufiedenheit auf die etablierten Parteien nicht abnimmt. Der Block rechts von Ruttes rechtsliberaler VVD umfasst mittlerweile fünf Parteien, die gemeinsam etwa ein Drittel der Wähler repräsentieren. Das st sicherlich uch eine Folg der fehlenden 5%-Klausel im Nachbarland, wo 16 Parteien im 150 Sitze umfassenden Zweede Kamer vertreten sind (plus noch ein paar unabhängige Einzelkämpfer).

Mir hat Jan Bouman aus Zeist (Prov. Utrecht) aus dem Herzen gesprochen. In seiner Mail an den Volkskrant schreibt er: „Warum werden die Menschen nicht klüger? Jedes Mal, wenn ein Paradiesvogel mit seinem eigenen Klang kommt, ob Koekoek, Fortuyn, Thierry oder jetzt Van der Plas, fällt der Wähler darauf herein. Anstatt endlich eine Kehrtwende zu machen und progressiv zu wählen, wählen die Menschen mehr denn je rechts.“

 

Meine Güte!

10. Februar 2023

Das legendäre und leider vergriffene  Fotobuch „Expeditionen ins Emsland“ von Gerhard Kromschröder beginnt mit einem Vorwort aus Samuel Becketts „Warten auf Godot“. Estragon sagt da zu Wladimir, er wollte „schon immer durchs Emsland wandern“ – eine von Beckett akzeptierte Übertragung von „Artége“ aus dem Original; die Artége ist ein kleiner französischer Landstrich in den Pyrenäen. Daran musste ich denken, als ich gestern von der Absage eines Theaterstücks ausgerechnet im emslandnahen Groningen las. Jenes Stück, in dem zwei Clowns die Zeit totschlagen, während sie auf jemanden namens Godot warten. Es handelt sich um einen eher kleinen, universitätsbezogenen Streit, der nun öffentlich gemacht und von der dpa verbreitet wurde. Doch die Absurdität von Regeln und Verboten in künstlerischen Zusammenhängen macht das Geschehen sehr schön deutlich.

Beckett hatte – übrigens sogar juristisch – festgelegt, dass die Rollen in seinem Stück „Warten auf Godot“ wirklich nur von Männern gespielt werden dürfen. Weil aber in Groningen die englischsprachige Groningen University Theatre Society zu dem Casting für die Aufführung von Becketts „Warten auf Godot“ nur Männer eingeladen hatte, darf das Stück nicht wie geplant im März im Kulturzentrum der Universität Groningen aufgeführt werden. Es gehe nicht an, dass Gruppen von Menschen ausgeschlossen würden, sagte eine Sprecherin des Zentrums der Deutschen Presse-Agentur. So etwas soll nicht mehr sein. Heute, wo jede Kaffeewerbung auf die Quote achtet, da kann man doch kein Stück mehr spielen, in dem ausschließlich Männer vorkommen, kommentierte gerade genüsslich die FAZ. Dass nur Männer zum Casting für die Männerrollen eingeladen worden seien, entspreche eben nicht den „Subventionsregeln des Kulturzentrums“: Jedes Casting müsse für alle Gruppen offen sein.

Oisín Moyne, der 26jährige Regisseur des abgesagten Abends, sagte dazu das Offensichtliche: Er komme sich vor, als ob er „in einem absurden Traum gelandet“ sei. Die Aufführung der Inszenierung ist jedenfalls untersagt und passt damit auch sehr zum Stadjer-Image im Norden der Niederlande, denen besondere Eigenarten nachgesagt werden – wie den Ostfriesen nebenan. Die Absage von „Warten auf Godot“ passt da gut.

Übrigens hat gerade der Film „Ein Triumph“ von Emmanuel Courcol die Geschichte eines Schauspielers, der mit einer Gruppe von Strafgefangenen Becketts absurdes, vor 70 Jahren in Paris uraufgeführtes Theaterstück „Warten auf Godot“ inszeniert. Ein cineastisches Meisterwerk. Gedreht wurde in Frankreich, nicht in Groningen.

„Heiter weiter“

20. Februar 2022

Das Groninger Erdgas wird auch im Lingener RWE-Gastkraftwerk zu Strom verfeuert. Die Folgen sind nicht ohne (hier…). Dies als Erklärung, weshalb der sarkastische Beitrag in der freitäglichen heute-show nicht nur witzig (gemacht) ist.

Wir erfahren: In und um Groningen gibt es 27.000 Häuser mit Erdbebenschäden. Wegen des Gases, das eben (auch) an uns geliefert wird. Das deutsche Fazit „Heiter weiter“ bringt’s trotzdem auf den Punkt. Oder?

ESNS ist immer im Januar

17. Januar 2020

ESNS (Eurosonic Norderslag)
Groningen – Innenstadt
Do 16.01 – Sa 18.01.2020

Mit dem Eurosonic Noorderslag Festival (ESNS) ist auch 2020 der wohl wichtigste  Umschlagplatz für neue europäische Musik im niederländischen Groningen.  Jahr im Januar wird Groningen damit für ein paar Tage zur musikalischen Hauptstadt Europas. Das ESNS besteht aus zwei Teilen:

D. Eurosonic läuft vom Mittwoch bis Freitag. Überall in der Innenstadt spielen Bands aus ganz Europa in den verschiedensten Venues und auf dem Grote Markt gibt es Eurosonic Air. Noorderslag ist am Samstag in De Oosterpoort und dort spielen dann nur niederländische Bands.

Außerdem findet eine Conference zum Netzwerken für Music Professionals in De Oosterpoort statt – mit Workshops, Keynotes und Präsentationen. ESNS ist so zu einer networking platform für europäische Musik geworden:

„Eurosonic Noorderslag is the key exchange and networking platform for European music, with a proven track record for helping new acts break into the international music scene.“

in diesem Jahr liegt der Fokus des Festivals übrigens auf der Schweiz. Die Tickets und das Programm finden sich hier. Der WDR widmet dem Musikfest mit 350 Künstlerinnen und Künstlern am 9. und 16. März zwei Rockpalast-Sendungen.

Social Media: Hashtag für die gesamte Veranstaltung ist #ESNS (Twitter | Instagram).

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Das Foto ist von Douwe Dijkstra [CC BY-SA 3.0] und auf Wikimedia Commons zu finden.

Küstengefühl

3. Januar 2020

Eine frische Brise Nordsee liegt in der Luft. In Groningen stellt sich schnell das besondere Küstengefühl ein, das viele haben, wenn sie die Region besuchen und wonach viele sich sehnen, wenn sie schon mal dort gewesen sind. Wege, um nach Groningen zu gelangen, gibt es viele; zum Beispiel die Reise mit dem Fernbus von Oldenburg über Ostfrieslan.

Das norddeutsche Verhältnis zu den Niederlanden ist vielleicht auch wegen der räumlichen Nähe oft verklärt, weswegen jede Fahrt dorthin, und sei sie noch so unspektakulär, mit Cannabis assoziiert wird. Da werden eigentlich ganz normale Fernbusse plötzlich zu Drogenbussen uminterpretiert. Damit holen die Student:innen der einen deutschen Universitätsstadt angeblich ihren Stoff von der Universitätsstadt jenseits der Grenze. „Aus Holland“ ist für Marihuana ein Gütesiegel, weiß jede:r Kiffer:in.

Und doch zieht es nicht viele Oldenburger:innen an diesem Wochenende vor den Feiertagen in den Fernreisebus. Es ist nur eine kleine Gruppe junger Frauen, die einsteigt und wohl eher auf einer Einkaufstour als auf der Suche nach dem besten Gras ist. Spannender ist die Option des straffreien Kiffens wohl für die vielen deutschen Studierenden, die sich länger dort aufhalten wollen: Die Niederlande sind auf dem zweiten Platz hinter Österreich, wenn es um die Beliebtheit von Auslandssemestern für Studierende aus deutschen Universitäten geht.

Im Bus, der aus Berlin kommt und über Oldenburg, Westerstede und Leer in Ostfriesland nach Groningen fährt, sitzt im vorderen Teil eine Gruppe niederländischer Männer, die wohl…“

[hier geht’s weiter…]

Andere Länder…

30. Dezember 2019

…anderes Recht. Im Nachbarland muss die Niederländische Erdölgesellschaft („Nederlandse Aardolie Maatschappij „), kurz NAM, jetzt Schmerzensgeld zahlen. Denn im niederländischen Friesland war es aufgrund von Erdgasbohrungen bereits häufiger zu Erdbebengekommen, die auch Privathäuser beschädigten. Lange wurde vor Gericht um die Frage gerungen, ob die NAM für diese Schäden aufkommen muss oder nicht. Jetzt hat der Gerichtshof der Stadt Leeuwarden ein Urteil gefällt, demzufolge Betroffenen Schadensersatz und darüber hinaus Schmerzensgeld zustehe.

Bereits 2017 hatte das Gericht in der Stadt Assen geurteilt, dass die NAM für Erdbebenschäden aufkommen müsse. Dieses Urteil wurde durch ein Urteil des Gerichts Leeuwarden nun teilweise bestätigt. Das teilte die Gruppe der Kläger in verschiedene Kategorien ein. Die erste Gruppe von ihnen – weit mehr als die Hälfte der Kläger in diesem Prozess – hat das Recht auf eine Schadensersatzzahlung durch die NAM. Ein Teil von ihnen hat darüber hinaus auch das Recht auf Schmerzensgeld und kann mit einem Schmerzensgeld von mindestens 2.500 Euro rechnen. Personen, deren Haus oder Wohnung jedoch keinen oder „nur einen“ Schaden aufweist, können vorerst nicht mit einer Zahlung rechnen. Sie bekommen jedoch noch die Gelegenheit, ihren Anspruch auf Schadensersatzzahlungen deutlich zu machen. 13 Kläger fallen ganz aus dem Rahmen und können laut Urteil des Gerichts nicht mit einer Entschädigung rechnen.

Die Urteile in Assen und Leeuwarden sind laut der niederländischen Tageszeitung NRC Handelsblad jedes für sich ganz besonders. Normalerweise kann nur dann Schmerzensgeld verlangt werden, wenn ein körperlicher oder physischer Schaden vorliegt. Im Falle des Gerichtsurteils von 2017 wurde jedoch auf eine Diagnose verzichtet. Die betroffenen Kläger mussten lediglich auf dem Gasfeld von Groningen wohnen. Daraufhin ging die NAM gegen dieses Urteil in Revision, da die Kläger ihre Schäden nicht ausreichend  genug bewiesen hätten und das Gericht die potentiell sehr unterschiedliche Situation der einzelnen Kläger über einen Kamm schere.

Das aktuelle Urteil von Leeuwarden vom gestrigen Dienstag sei laut Aussage von Rianka Rijnhout von der Universität Utrecht das erste, dass einer so großen Gruppe Schmerzensgeld zugesprochen habe. Der Gerichtshof nehme damit seine gesellschaftliche Pflicht wahr, was Regierung und NAM bisher versäumt hätten. Das neue Urteil ist jedoch nur ein Anfang: Mittlerweile haben 5.300 weitere Personen Klage beim Gericht Noord-Nederland eingereicht. Untersuchungen der Universität Groningen zeigen darüber hinaus, dass rund 83.000 Niederländer durch die Bohrungen der NAM und den hieraus resultierenden Erdbeben Schäden an ihren Häusern haben. Für sie ist das Urteil von Leeuwarden jetzt ein Präzedenzfall, an dem sich weitere Gerichtsverfahren orientieren können.

Der niederländische Wirtschaftsminister Eric Wiebels (VVD) hatte bereits vor einiger Zeit  angekündigt, die Erdgasförderung in dem Gebiet um Groningen im Jahr 2022 zu beenden. Damit wird das Problem laut dem NRC Handelsblad jedoch nicht gelöst: Täglich werden nämlich neue Schadensmeldungen eingereicht, als abgearbeitet werden können.


Text: Niederlande.net; Foto: Gasfelder in den Niederlanden; MJSmit (talk) Satellite_image_of_the_Netherlands_in_May_2000.jpg: created by NASA Satellite_image_of_the_Netherlands_in_May_2000.jpg  CC BY-SA 3.0

Unkraut

13. November 2019

In den Niederlanden hat der Senat, die Erste Kammer der Gesetzgebung im Nahbarland in dieser Woche Besonderes beschlossen.

Das meldete der Online-Dienst Westerwolde-News in seinem Twitter-Account. Twitter hat die Meldung in niederländischer Sprache auch ins Deutsche übersetzt. Ganz prima. Jedenfalls nahezu. Warum? Klickt bitte den Tweet an und dann auf google Übersetzen

Um was geht es? Aktuell entwickeln die Niederlande ein Modell, in dem für den Freizeitgebrauchstaatlich gezüchtetes und angebautes Marihuana („Wiet“) nur in bestimmten Coffeeshops verkauft werden sollen. So soll ein geschlossener Kreislauf entstehen. Nach Ansicht der Kommission „Experiment closed coffee shop chain“ unter  Vorsitz von Prof. Dr. Dr. med. André Knottnerus, die die Realisierbarkeit des Versuchs untersucht, kann der Wiet-Versuch gelingen, wenn es ein diverses Angebot an verschiedenen Cannabissorten, Verkaufspunkten und teilnehmenden Gemeinden gibt.

Gestern nun beschloss nun der Senat der Niederlande („Eerste Kamer“) den entsprechenden Gesetzesentwurf für das auf vier Jahre angelegte Experiment „Closed coffee shop chain“ – ein wichtiger Schritt, um den im Koalitionsvertrag der amtierenden Koalition vereinbarten, landesweiten Versuch mit einer geschlossenen Kette vom Cannabisanbau bis zum Verkauf bzw. vom Züchter bis zum Konsumenten umzusetzen.

Als nächste Schritte sind auch die Annahme des Beschlussvorschlags durch den niederländischen Staatsrat sowie eine Ministerialverordnung notwendig. Der Beschlussvorschlag liegt inzwischen bereits dem Staatsrat vor. Die Anhörungen zur Ministerialverordnung wurden in dieser Woche ebenfalls abgeschlossen. Die abgegebenen Stellungnahmen werden jetzt ausgewertet. Nach diesen letzten Schritten im Gesetzgebungsverfahren wird der mehrjährige Versuch dann starten.

Im vergangenen Sommer hatte bereits die unabhängige Knotterus-Kommission 10 niederländische Städte für das Experiment vorgeschlagen: Arnhem, Almere, Breda, Groningen, Heerlen, Hellevoetsluis, Maastricht, Nijmegen, Tilburg und Zaanstad. Die drei Städte Maastricht, Breda und Heerlen wurden aufgrund ihrer Lage als Grenzgemeinden eingestuft und dürfen daher kein Marihuana an Ausländer verkaufen.

2024/25 soll die Situation in den zehn Versuchsgemeinden dann mit anderen, am Versuch nicht teilnehmenden Gemeinden verglichen werden. Als sogenannte Kontrollgemeinden hat die zuständige Kommission Zutphen, Tiel, Roermond, Midden-Groningen, Lelystad, Hoorn und Helmond vorgeschlagen. Die Kommission hatte außerdem im Sommer gefordert, dass auch eine der vier großen niederländischen Städte am Experiment teilnehmen müsste; von diesen hatte sich aber keine beworben. Daher ist offen, ob bspw. Utrecht nicht doch mit modifizierten Konditionen am Versuch teilnehmen könnte.

Cannabisanbauer, die an dem Projekt interessiert sind, können sich inzwischen anmelden, wenn das Projekt tatsächlich beginnt. Sie müssen dabei nicht aus einer der 10 Versuchsgemeinden kommen. Der genaue Zeitpunkt und die Frist für die notwendige Registrierung werden in naher Zukunft bekannt gegeben. Es bleiben also nur noch wenige Hürden zu meistern, bevor das Experiment mit staatlich gezüchtetem Cannabis in den Niederlanden beginnt.

staatlich gezüchtet

7. September 2019

Um das illegale Geschäft mit Cannabis zu beenden, gehen die benachbarten Niederlande einmal mehr undogmatische Wege. Niederlande.Net, die  Informationsplattform aus Münster, weiß mehr über einen, auf vier Jahre angelegten Modellversuch:

Groningen, Tilburg, Breda, Maastricht, Almere, Arnhem, Nimwegen, Zaanstad, Heerlen und Hellevoetsluis sind als die niederländischen Gemeinden ausgewählt, in denen bald nur noch staatlich gezüchtetes Marihuana in Coffeeshops gekauft werden kann. Insgesamt hatten sich 26 Gemeinden für die Teilnahem am Experiment beworben, die vier großen Städte (Amsterdam, Den Haag, Rotterdam und Utrecht) hatten allerdings bekannt gegeben, dass sie aufgrund der Bedingungen des Experiments nicht teilnehmen werden. Sie fanden es nicht akzeptabel, dass alle Coffeeshops einer ausgewählten Gemeinde am Experiment teilnehmen müssen.

Nach vier Jahren soll die Situation in den zehn Experimentiergemeinden dann mit Kontrollgemeinden verglichen werden. Als sogenannte Kontrollgemeinden schlug die zuständige Kommission Zutphen, Tiel, Roermond, Midden-Groningen, Lelystad, Hoorn und Helmond vor. Die Kommission gibt außerdem zu bedenken, dass eigentlich eine der „Großen Vier“ am Experiment teilnehmen müsste. Daher soll och untersucht werden, ob beispielsweise Utrecht nicht doch mit modifizierten Konditionen am Experiment teilnehmen könnte.

Nach Ablauf des Experiments soll sein Erfolg an verschiedenen Faktoren bemessen werden. So soll beispielsweise geprüft werden, ob die Handelskette – vom Züchter bis zum Konsumenten – geschlossen gehalten werden kann und es zu keinen illegalen Lieferungen gekommen ist. Auch wird unter anderem der Cannabiskonsum in den jeweiligen Gemeinden evaluiert werde. Laut Knottnerus, Leiter der bereits genannten Kommission, sei das Experiment bereits positiv zu bewerten, wenn „es keine Verschlechterung gegenüber der jetzigen Situation ist“. Das würde nämlich bedeuten, dass die organisierte Kriminalität, die zum jetzigen Zeitpunkt Teil der Lieferkette für Coffeeshops ist, ins Abseits katapultiert werden konnte.

Die stattlichen Züchter, die übrigens nicht in den jeweiligen Gemeinden selbst ansässig sein müssen, sollen rund 15 Cannabis- und 10 Haschvarianten züchten, die dann zu einem „marktkonformen“ Preis angeboten werden: Nicht zu billig, damit der Marihuanakonsum nicht stimuliert wird, aber auch nicht zu teuer, sodass die Konsumenten Waren auf dem Schwarzmarkt kaufen werden.

Die drei Gemeinden Maastricht, Breda und Heerlen werden aufgrund ihrer Lage als Grenzgemeinden eingestuft und dürfen daher kein Marihuana an Ausländer verkaufen.

Durch die Bekanntgabe der jeweiligen Experimentiergemeinden hat das niederländische Experiment mit staatlichem Marihuana mehr Kontur bekommen. Der Aufbau und die voraussichtliche Durchführung sind aber bereits kritisiert worden. Die Anzahl an Gemeinden reiche u. a. nicht aus, um verlässliche, wissenschaftliche Ergebnisse zu bekommen.

Mehr über die niederländische Drogenpolitik und die vermeintliche Legalität von Marihuana kann im Niederlande.Net-Dossier Drogengesetzgebung in den Niederlanden nachgelesen werden.

Pass

29. Januar 2018

Ismail Ismail pendelt zwischen Lüneburg, Oldenburg und Hannover, wo er sich auf sein Studium vorbereitet. Was ihm unterwegs widerfährt und wem er begegnet, schreibt er für die taz auf. Nach drei Jahren Flucht hat er einen Reisepass bekommen: „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Pass habe. Ich habe sofort ein Zugticket gekauft“:

„Früh am Morgen bin ich zur Ausländerbehörde gegangen und habe zum allerersten Mal in meinem Leben einen Reisepass bekommen. Meinen Pass, nach drei Jahren Kampf – und zwei Monate nachdem ich den Antrag gestellt habe. Ich bin direkt zum Lüneburger Bahnhof gegangen, habe mir ein Niedersachsen-Ticket plus fünf Euro für die Reise in die niederländische Stadt Groningen gekauft. Und bin losgefahren.

Ende Februar 2011 konnte ich dank der Revolution in Syrien zum ersten Mal aus Syrien ausreisen, damals in den Irak. Wir waren damals eine Gruppe von rund 40 Leuten und fuhren zu einem Dorf an der irakischen Grenze. Dort mussten wir einige Stunden in einem Hinterhof warten.

Gerade als die Uhr ein Uhr in der Nacht zeigte, liefen wir los. Zwei, drei Hügel auf und ab, viele Bäche überquert, von den Grenzwächtern eine lange Strecke gejagt, bis wir es endlich zum von Fluchthelfern vorgesehenen Treffpunkt am Fluss schafften.

Erschöpft, klitschnass und frierend mussten wir das Schlauchboot aufpumpen, damit wir auf die irakische Fluss-Seite fahren konnten. Wir passten nicht alle auf einmal rein.

Also teilten wir uns in zwei Gruppen auf. Ich war in der ersten Gruppe, die auf einer Insel in der Mitte des Flusses auf die zweite Tour warten sollte, genau in diesem Dreieck zwischen Irak, Türkei und Syrien. Die beiden letztgenannten Länder gehen nicht sehr freundlich mit geflüchteten Menschen um: Eher werden sie erschossen.

Ich war am Ende fast Experte für illegale Reisen, das machte die Gefahr nicht geringer

Mit Glück und wahrscheinlich mit den Gebeten unserer Mütter schafften wir es auf die andere Seite, wo uns kurdische Soldaten…

[Fortsetzung hier]

Erdbeben

10. Januar 2018

In der benachbarten niederländischen Provinz Groningen bebte vorgestern gegen 15.00  die Erde. Wieder einmal. Es war das heftigste Erdbeben seit 2012. Sogleich entbrannten wieder heftige Diskussionen um die Erdgasförderung in der Region.

In den letzten Jahren hatte es eigentlich ganz gut ausgesehen. Die Intensität der Erdbeben hatte in Groningen sukzessive abgenommen, nachdem die Erdgasförderung in Folge des schweren Erdbeben 2012 in Huizen halbiert worden war – von 53 Milliarden Kubikmetern auf nur noch 21,6 Milliarden pro Jahr. Am Montag allerdings wurde Groningen vom zweitgrößten Beben, das die Region jemals erlebt hat, erschüttert. Das Epizentrum lag in Zeerijp, einem 440-Seelendorf im Norden der Provinz. Das Beben lag dort bei 3,4 auf der allgemeinen Richterskala und war noch 20 Kilometer weiter südlich in der Großstadt Groningen deutlich zu spüren.

Da die Anzahl der mittleren bis starken Erdbeben, im Zusammenhang mit der verminderten Erdgasförderung seit 2014, zunächst tatsächlich abgenommen hatte, erwischte das jetzige Beben viele Groninger auf dem falschen Fuß. Koos Cleveringen sagte der Tageszeitung des Volkskrant beispielsweise: „Ich dachte, dass durch die Verminderung der Erdgasförderung solch starke Beben nicht mehr vorkommen würden. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet.“ Wie ihm ging es vermutlich vielen Anwohnern, die am Montag von dem Beben überrascht worden waren, zumal das Abpumpen des Erdgases rund um die Gemeinde Loppersum, in der sich das Dörfchen Zeerijp (Bild unten: Pfarrhaus von Zeerijp, ©2018 De Pastorie Zeerijp) befindet, bereits vor längerer Zeit vollständig eingestellt wurde. Auch der Kommissar des Königs der Region, René Paas, zeigte sich überrascht: „Es wird auf einen Schlag deutlich, dass es ein Irrglauben ist, dass die Erde in Groningen ruhiger wird.“

Der Bürgermeister von Loppersum, Albert Roodenboog, sagte Montagnachmittag: „Ich hatte die leise Hoffnung, dass der Boden zur Ruhe gekommen ist, bis heute drei Uhr. Das ist ein schwerer Schlag.“ Das einzige, was seiner Ansicht nach langfristig Sicherheit für die Region bringen könne, sei die Einschränkung der Erdgasförderung auf dem gesamten Abpumpgebiet. Er wendete sich auch direkt an die an der Erdgasgewinnung beteiligten Unternehmen: „Ich appelliere an die Anteilseigner der NAM (Nederlandse Aardolie Maatschappij), Shell und ExxonMobil, um für die Sicherheit der der Groningerinnen und Groninger zu bürgen.“ Die NAM ließ am späten Montagnachmittag wissen, dass sie die Vorkommnisse bedauere und diese noch analysieren werde. Das wird die Niederländische Erdöl-Gesellschaft auch müssen, denn das Bergamt (Staatstoezicht op de Mijnen) hat bestimmt, dass die NAM den Vorfall innerhalb von zwei Tagen analysieren und Maßnahmen erarbeiten muss.

Unterdessen ließ Eric Wiebes, Wirtschaftsminister der Niederlande, verlauten, dass die Gasgewinnung in Groningen innerhalb dieser Legislaturperiode maximal zurückgeschraubt werden müsse „was auch immer uns dazu einfallen wird – wir müssen die Erdgasgewinnung runterregulieren.“ Wiebes wird der Regionheute einen bereits länger geplanten Besuch abstatten. In der Tweede Kamer wurde bereits eine Debatte zum Thema angefragt. Selbst wenn die Erdgasgewinnung jedoch immer weiter zurückgefahren oder gar irgendwann vollständig eingestellt würde, kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden, dass die Erdbeben in Groningen aufhören. Ein halbes Jahrhundert Raubbau unter der Erde zollt schließlich ihren Tribut. So warnt auch der flämische Geologe Manuel Sintubin, dass das Zusammenspiel zwischen dem Niveau der Gasgewinnung und der Stärke der Erdbeben schlichtweg zu undurchsichtig sei, um sichere Aussagen zuzulassen. Dies sei sogar dann der Fall, wenn die Politik sich dazu durchringen würde, die Erdgasförderung, die den Niederlanden immerhin über Jahre hinweg einen nicht geringen Wohlstand beschert hat, ganz einzustellen.

Der Schaden, der in Groningen seit dem ersten spürbaren Erdbeben im Jahr 1986 entstanden ist, ist beträchtlich und trotzdem hängen viele Groninger an ihrer Heimat. Sie wollen bleiben. Trotz der Unsicherheit. Trotz den ständigen Querelen um die Schadensvergütung. Immerhin sitzen viele Anwohner der Region noch auf den Kosten von dem letzten Beben, während das Beben vom Montag schon wieder neue Schäden an Haus und Hof verursacht hat. Bis Montagabend 20.00 Uhr waren bereits 316 Schadensmeldungen telefonisch eingegangen, auf welche Höhe sie sich insgesamt belaufen, ist allerdings noch nicht absehbar

Alle 22.000 Häuser im Groninger Erdbebengebiet werden in den kommenden fünf Jahren auf ihre Erdbebenbeständigkeit hin untersucht. Sind die Häuser nicht sicher genug, werden sie verstärkt. Sollten die Kosten für eine solche Maßnahme bei über 50 Prozent des Marktwertes des Hauses liegen, wird das Haus abgerissen und neu aufgebaut. Für viele Groninger – betroffen oder nicht – ist das ein Alptraum. Denn selbst wenn das eigene Haus erdbebensicher ist und man bleiben kann, wird sich viel am Stadtbild ändern. So werden aller Voraussicht nach vor allem ältere Wohnviertel mit historischem Anstrich von den Maßnahmen betroffen sein.