Die EU-Kommission möchte mit einer Chatkontrolle unsere Kommunikation im Internet umfassend überwachen. So sollen sämtliche Nachrichten in sozialen Medien, Chats und Webseiten, aber auch bisher Ende-zu-Ende-verschlüsselte Messengernachrichten kontrolliert werden. Durch die Überwachung all unserer Nachrichten möchte die EU-Kommission Missbrauchsdarstellungen von Kindern und Jugendlichen finden. Doch statt Kindesmissbrauch zu verhindern, schafft die EU-Kommission damit eine Reihe neuer Probleme für uns alle.

Eine massenhafte Kontrolle der gesamten digitalen Kommunikation ist nichts anderes als eine Massenüberwachung und stellt uns alle unter Generalverdacht. Damit schafft die EU-Kommission de facto eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und damit jede private Kommunikation und ein wichtiges demokratisches Grundrecht einfach ab. Denn verschlüsselte und sichere Kommunikation ist nicht nur Grundlage für politischen Aktivismus, für kritischen Journalismus, Whistleblowing und Anwältinnen- und Ärztegeheimnis sondern für jede vertrauliche und intime Kommunikation und das Leben in einer demokratischen Gesellschaft.

Der Juristische Dienst des EU-Rats bezeichnet jetzt die Chatkontrolle als rechtswidrig und erwartet, dass Gerichte das geplante Gesetz wieder kippen. Die EU-Staaten nehmen das Gutachten zur Kenntnis und verhandeln trotzdem einfach weiter. Wir (netzpolitik.org) veröffentlichen ein eingestuftes Verhandlungsprotokoll.

Vor einem Jahr hat die EU-Kommission eine Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern vorgeschlagen. Das Gesetz soll Anbieter von Internetdiensten verpflichten, per Anordnung die Inhalte ihrer Nutzer:innen zu durchsuchen und strafbare Kinderpornografie sowie Grooming an ein EU-Zentrum weiterzuleiten – die Chatkontrolle.

Im Bundestag kritisierten alle Sachverständigen bis zum Kinderschutzbund: Die Chatkontrolle ist nicht notwendig, nicht effektiv und nicht verhältnismäßig. Jurist:innen bezeichnen die Maßnahmen als grundrechtswidrig und erwarten, dass Gerichte die Chatkontrolle kippen. Das sagen die deutschen und europäischen Datenschutzbeauftragten, die Wissenschaftlichen Dienste von Bundestag sowie EU-Parlament und jetzt auch der Juristische Dienst des EU-Rats.

Die EU-Staaten verhandeln den Gesetzentwurf in der Ratsarbeitsgruppe Strafverfolgung. Ende April ging es erneut ausschließlich um die geplante Verordnung. Wir veröffentlichen ein weiteres Mal das eingestufte Protokoll der Verhandlungsrunde im Volltext.

Besonders schwerer Eingriff in Grundrechte

Zu Beginn der Sitzung stellte der Juristische Dienst des EU-Rats sein Gutachten vor. Demnach verstößt das geplante Gesetz gegen die Grundrechtecharta. Die Chatkontrolle betrifft alle Nutzer:innen der verpflichteten Kommunikationsdienste, „ohne dass diese Personen auch nur indirekt in eine Situation geraten, die eine strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen könnte“. Diese allgemeine und unterschiedslose Kontrolle ist unverhältnismäßig und erfüllt die Voraussetzungen für Grundrechtseingriffe nicht.

Der Europäische Gerichtshof hat mehrmals klargestellt, dass die Vorratsdatenspeicherung unvereinbar mit der Grundrechtecharta ist. Die Chatkontrolle geht noch über die Vorratsdatenspeicherung hinaus: Sie betrifft nicht nur Verkehrs- und Standortdaten, sondern auch Kommunikationsinhalte. Und sie richtet sich nicht nur gegen Terrorismus und Gefahren nationaler Sicherheit, sondern gegen Straftaten. Wenn das oberste EU-Gericht die Vorratsdatenspeicherung kippt, dann die Chatkontrolle erst recht.

Die Jurist:innen des EU-Rats wählen starke Worte. Die Chatkontrolle „beeinträchtigt den Wesensgehalt der Grundrechte“. Das Grundrecht auf Vertraulichkeit der Kommunikation könne „unwirksam und inhaltsleer“ werden. Es besteht „die ernsthafte Gefahr, sogar den Kern des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens“ zu verletzen. Um irgendwie rechtmäßig zu werden, müsste sich die Chatkontrolle auf Personen beschränken, die mit sexuellem Missbrauch in Verbindung stehen.

Zehn Staaten ignorieren Rechtsgutachten

Die EU-Kommission, die den Gesetzentwurf vorgeschlagen hat, widerspricht der juristischen Bewertung des Rats ausdrücklich. Die Kommission geht „von einer grundlegend anderen rechtlichen Bewertung aus“. Sie kündigte an, eine schriftliche Stellungnahme zu erarbeiten, um die Perspektive der Rats-Jurist:innen zu kontern. Die EU-Staaten kündigten ebenfalls an, das Gutachten des EU-Rats zu prüfen. Dann verhandelten sie weiter.

Zehn EU-Staaten haben sich in einer Gruppe gleichgesinnter Staaten zusammengetan und eine gemeinsame Position formuliert, die Irland vortrug. Sie fordern explizit, persönliche Kommunikation anlasslos zu durchsuchen, auch wenn die Nutzer:innen nicht im Verdacht stehen, mit Straftaten in Verbindung zu stehen. Die zehn Staaten wollen nicht nur nach bekannten strafbaren Inhalten suchen, sondern auch nach „unbekanntem Material“ sowie nach „Anwerbung von Kindern/Grooming“ – auch wenn dafür keine angemessene Technologie existiert.

Nach langem Streit fordert die deutsche Bundesregierung, nur unverschlüsselte Kommunikation zu scannen und verschlüsselte Kommunikation auszunehmen. Dieser Forderung widersprechen die zehn Staaten, sie wollen Ende-zu-Ende-verschlüsselte Dienste nicht ausnehmen. Die Staatengruppe fordert zudem, das Gesetz möglichst noch dieses Jahr zu beschließen.

Undifferenzierte Gesamtüberwachung

Andere Staaten sind kritischer. Österreich äußerte „datenschutzrechtliche und grundrechtliche Bedenken“, der Gesetzentwurf beinhalte eine „undifferenzierte Gesamtüberwachung“. Deutschland verwies auf die Stellungnahme der Bundesregierung und forderte „wesentliche Änderungen“ des Gesetzes, will sich aber „weiterhin aktiv und konstruktiv“ einbringen. Polen betonte: „Verschlüsselung darf nicht gebrochen werden“.

Tschechien fordert, auch neues Missbrauchsmaterial zu suchen, dafür dürfe man die Chatkontrolle nicht auf potenzielle Straftäter beschränken. Die Niederlande hingegen haben mit Blick auf die aktuell existierenden Technologien „erhebliche Zweifel“, ob die Suche nach unbekanntem Material und Grooming verhältnismäßig ist. Estland und Malta fordern, „grundlegende Fragen zu klären, um geeignete, rechtlich tragbare Lösungen für dieses Dilemma zu finden“.

Im weiteren Verlauf diskutierten die Staaten die aktuellen Kompromissvorschläge der schwedischen Ratspräsidentschaft. Schweden kündigte an, dass sich der Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten auf seiner heutigen Tagung mit der geplanten Verordnung und insbesondere mit „Umfang und Umgang mit Verschlüsselung“ befassen wird. Der Punkt wurde jedoch wieder von der Tagesordnung gestrichen – die EU-Staaten streiten weiter.

Hier findet man die von netzpolitik.org angesprochenen Schriftstücke (bitte nach unten scrollen)

Hier geht es zur Website von CHAT-Kontrolle stoppen.

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Ein Beitrag von Andre Meister auf netzpolitk.org /
CC BY-NC-SA 4.0
Foto: DGB in Europa, CC hier im Blog vom 29.4.2019

Union verwässert

11. Mai 2023

Nach langem Gezerre hat sich der Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag auf ein Hinweisgeberschutzgesetz geeinigt – und das Gesetz in einigen Punkten abgeschwächt. Schon diese Woche könnte der Schutz von Whistleblower:innen endgültig beschlossen werden und im Sommer in Kraft treten.

Deutschland bekommt nun erstmals ein Gesetz, das Whistleblower:innen schützt. Doch den Unionsparteien ist es auf den letzten Metern gelungen, die Regeln zu verwässern. Vereinfachte Pixabay Lizenz Grafik: Clker-Free-Vector-Images / Montage: netzpolitik.org

Ende der Woche könnte es endlich so weit sein und Deutschland ein Gesetz zum Schutz von Whistleblower:innen erhalten. Bund und Länder einigten sich Dienstag Abend im Vermittlungsausschuss auf ein fertiges Hinweisgeberschutzgesetz. Im Bundestag soll es am Donnerstag, im Bundesrat am Freitag angenommen werden. In Kraft treten könnte es dann schon im Sommer.

Mit dem neuen Gesetz will die Ampelkoalition Menschen schützen, die Rechtsverstöße am Arbeitsplatz oder in der öffentlichen Verwaltung aufdecken wollen. Bislang mussten Hinweisgeber:innen in Kauf nehmen, womöglich Repressalien wie Mobbing, Jobverlust oder Klagen ausgesetzt zu sein. Mit der – reichlich verspäteten – Umsetzung einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 2019 soll damit künftig Schluss sein.

Grundsätzlich geht der Anwendungsbereich über die EU-Mindestvorgaben hinaus und umfasst auch bestimmte Verstöße gegen deutsches Recht, etwa straf- und bußgeldbewehrte Verstöße. Unternehmen und Einrichtungen des öffentlichen Sektors ab 50 Mitarbeitenden müssen interne Meldestellen einrichten, wobei kleinere Unternehmen diese gemeinsam betreiben können. Zudem sieht das Gesetz auch externe Meldestellen vor, unter anderem beim Bundesamt für Justiz (BfJ).

Die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss waren notwendig geworden, weil die Unionsparteien im Bundesrat das Gesetz blockiert hatten. Da half selbst das waghalsige Manöver der Ampel nicht, die zustimmungspflichtigen Passagen, die sich auf die Länder bezogen hatten, aus dem Gesetz herauszulösen. Ein Kompromiss musste her. Und über den sind nicht alle glücklich.

Anonyme Meldewege nicht mehr Pflicht

So entfällt etwa die Pflicht, anonyme Meldekanäle einzurichten, die der Bundestag noch vorgesehen hatte. Hinweisgeber:innen müssen also von Beginn an ihre Identität preisgeben, wollen sie unter den Schutzbereich des Gesetzes fallen. Der grüne Bundestagsabgeordnete Till Steffen hält den Kompromiss bei anonymen Meldestellen für vertretbar, denn ganz entfallen soll dieser Weg nicht.

„Das Bundesamt für Justiz wird die Möglichkeit zu solchen anonymen Dialogen schaffen“, sagt der Abgeordnete zu netzpolitik.org. „Wir gehen davon aus, dass dies die Unternehmen überzeugen wird, diese Möglichkeit auch freiwillig bei sich einzurichten“, so Steffen. Ob sich die Hoffnung erfüllt, muss sich noch weisen, zumal sich hinweisgebende Personen zunächst an die interne Stelle wenden sollen.

Für die Nichtregierungsorganisation Transparency International ist die Verwässerung „unverständlich“, sie sieht Unsicherheiten auf Unternehmen, Behörden und hinweisgebende Personen zukommen. „Obwohl Unternehmenspraxis und Forschung eindeutig zeigen, dass die Gewährleistung von Anonymität zu mehr und besseren Meldungen führt, wird das Gesetz an dieser Stelle abgeschwächt“, schreibt die NGO. Insgesamt werde das Signal gesendet, dass der Schutz der Hinweisgebenden und der Hinweise nicht an erster Stelle stehen.

Abstriche gab es auch bei einem anderen wichtigen Punkt. Der Kompromiss streicht ersatzlos eine Regelung, die das Recht auf immaterielle Schadensersatzansprüche festgeschrieben hatte – also das Recht auf eine angemessene Geldentschädigung, wenn der erlittene Schaden kein Vermögensschaden war, sondern eine Folge etwa von Mobbing oder sonstiger Drangsalierung.

Dabei entsteht eine Regelungslücke, die obendrein der EU-Richtlinie widerspricht. In jedem Fall könne das Streichen dieser Regelung „gravierende Auswirkungen für Whistleblower haben“, kritisiert Simon Gerdemann, der an der Universität Göttingen zum Whistleblowing-Recht forscht. „Damit fällt ein Schmerzensgeldanspruch für sehr viele Repressalien, von denen Whistleblower betroffen sind, weg.“

Pikant daran ist zudem, dass gegen Deutschland bereits jetzt ein EU-Vertragsverletzungsverfahren läuft. Eine sowohl verspätete wie unvollständige Umsetzung der EU-Richtlinie könnte saftige Geldbußen nach sich ziehen.

Halbierte Geldbußen bei Verstößen

Durchsetzen konnten sich die Unionsparteien auch bei den Unternehmensbußen, die bei Verstößen gegen das Gesetz vorgesehen sind. Die Maximalstrafe beläuft sich künftig auf 50.000 Euro – die Hälfte dessen, auf was sich die Koalitionsparteien ursprünglich geeinigt hatten. Sowohl Union als auch Arbeitgeberverbände wollten die Belastungen für die Wirtschaft tunlichst klein halten und freuen sich nun über die Schwächung des Gesetzes.

Ganz zufrieden sind sie indes weiterhin nicht. So bleibt etwa die Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände (VhU) bei ihrer „Fundamentalkritik an der Gesamtregelung“, da sie weiter gehe als die EU-Richtlinie. „Berechtigter Hinweisgeberschutz muss immer in das Verhältnis zu berechtigten Unternehmensinteressen gesetzt werden“, heißt es in einer Pressemitteilung der VhU.

Freilich blieb selbst der ursprüngliche Vorschlag aus dem Bundesjustizministerium hinter dem Koalitionsvertrag zurück. Dieser versprach noch, Hinweise über erhebliche Verstöße gegen Vorschriften oder sonstiges erhebliches Fehlverhalten zu schützen, das nicht klar illegal ist und dessen Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt. Potenzielle Whistleblower:innen werden sich vor einer Meldung wohl juristisch beraten lassen müssen, ob ein von ihnen beobachteter Missstand tatsächlich vom Gesetz erfasst wird.

Nationale Sicherheit geht vor

Ebenso sind die Geheimdienste weiterhin vollständig ausgeklammert. Einem deutschen Edward Snowden bliebe nur, sich unter hohem persönlichen Risiko an die Presse zu wenden und zu hoffen, dass die Identität nicht durchsickert. Und für an sich vom Gesetz geschützte Hinweisgeber:innen ist der Gang an die Medien ohnehin nur in bestimmten Fällen der letzte Schritt, um auf Missstände aufmerksam machen zu können.

Der nun erzielte Kompromiss zeige, dass es bei den Unionsparteien und Teilen der Wirtschaft nach wie vor große Vorbehalte gegen Whistleblower:innen gebe, obwohl diese im Interesse von Gesellschaft und Wirtschaft handeln, so Kosmas Zittel von Whistleblower-Netzwerk. „Erfreulicherweise hat sich wenigstens die Erkenntnis durchgesetzt, dass mit einer Einschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs keinem gedient gewesen wäre.“

Auch Kai Dittman von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) ist erleichtert, dass es das erste Mal überhaupt Schutz für Hinweisgebende gibt. Allerdings wirke das Gesetz sehr unfertig: „Eigentlich müsste sich die Regierung direkt schon an eine Reform setzen, die etwa auch Whistleblowing in Nachrichtendiensten, bei den meisten Verschlusssachen und im Bereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ermöglicht“, so Dittman zu netzpolitik.org. „In der Praxis gibt es gerade im Bereich Diskriminierung und Belästigung viele unternehmensinterne Meldungen.“


Ein Beitrag von  auf netzpolitik org / Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

Lebenswerk

2. Mai 2023

Schon wieder ein Jahr vorbei, aber auf den Big Brother Award ist Verlass. Dieses Mal wurde ein Lebenswerk ausgezeichnet.

Ob in der Freizeit, im Beruf oder in der Verwaltung: Software von Microsoft findet man in sämtlichen Lebensbereichen. Weil der Konzern es trotz Kritik immer wieder schafft, seine Macht über die Daten auszuweiten, erhält er den „Oscar der Überwachung“.

In der Hechelei Bielefeld verlieh am vergangenen Freitag der Verein Digitalcourage  die Big Brother Awards. In der fünfköpfigen Jury sitzen zwei Mitglieder von Digitalcourage, Frank Rosengart vom Chaos Computer Club sowie zwei weitere Datenschutzexperten. Der Negativpreis geht an Unternehmen, Behörden oder Personen, die aus Sichtweise der Jury besonders wenig Wert auf Datenschutz und Grundrechte legen.

In der Kategorie „Lebenswerk“ räumte Microsoft dieses Jahr den Preis ab. Und das nicht zum ersten Mal: Bereits 2002 bescheinigte die Jury dem Konzern eine Vorbildfunktion beim Thema Überwachung. Damals wegen einer „flächendeckenden Urheberrechts-Kontrolltechnologie“, dem Digital Rights Management. Inzwischen ist viel vorgefallen. Grund genug, um sich die letzten Entwicklungen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.

Das tut Thilo Weichert in seiner Laudatio, die er mit den Worten schließt: „Microsoft ist eine große Bevormundungsmaschine, die uns unserer digitalen Souveränität beraubt.“ Weichert ist ehemaliger Datenschutzbeauftragter von Schleswig-Holstein und ist heute noch als Datenschutzexperte beim Netzwerk Datenschutzexpertise aktiv.

Microsoft: Der große Bruder in allen Lebenslagen

Weichert erinnert an viele einzelne Aspekte, die offenbar zur Wahl des Preisträgers führten. Im Bereich Gaming will Microsoft den Spielehersteller Activision Blizzard schlucken. Auch um in der heraufbeschworenen virtuellen Zukunft, dem Metaverse, eine zentrale Rolle zu spielen. Die Wettbewerbsbehörde in Großbritannien hat die Übernahme am Mittwoch allerdings vorerst blockiert. Der immer gleiche Vorwurf dabei: zu viel Marktmacht.

Mit seinen Office-Anwendungen ist das Unternehmen schon lange für viele unersetzlich. Wie groß die Abhängigkeit von Microsoft ist, verdeutlichte erst im Januar ein zwischenzeitiger Ausfall einiger Microsoft-Dienste: Wegen eines Netzwerk-Konfigurationsfehlers war in vielen Büros Kaffeepause angesagt.

Bei der Nutzung von Microsoft vorne mit dabei sind auch deutsche Behörden, Microsoft hat in der Verwaltung die Nase vorn: 96 Prozent aller bundesunmittelbaren Behörden nutzten 2018 Microsoft Office sowie Windows, 69 Prozent nutzen Windows Server. Das geht aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion vom Mai 2021 hervor.

Wenig dazugelernt

Im aktuellen und im vergangen Jahr 2022 kam nochmal einiges auf die Microsoft-Verwaltungsdominanz oben drauf. Man schaue nur auf die Berliner Senatsverwaltung: Statt – wie ursprünglich geplant – die Berliner Lehrkräfte mit Adressen von Mailbox.org auszustatten, bekam stattdessen am Ende der Techriese den Zuschlag. Dabei hatte sich bereits ein Drittel der 34.000 Berliner Lehrkräfte neue Zugänge des Berliner Anbieter zugelegt.

„Ob Microsoft kurzfristig billiger ist, ist fraglich. Dass die langfristige Bindung an Microsoft letztlich nur dem Unternehmen dient, ist offensichtlich“, so Weichert in der Laudatio.

Daten-Black-Box Microsoft

Im November 2022 hatten Datenschützer darauf hingewiesen, dass Microsoft 365 nicht mit der Datenschutzgrundverordnung im Einklang stehe. Microsoft lege nicht offen, welche Kategorien von Daten sie verarbeiten und zu welchem Zweck, heißt es in dem Gutachten der Datenschützer.

Auch kritisieren die Expert:innen, dass Microsoft die persönlichen Daten seiner Kund:innen in die USA übermittele, wo der Konzern seinen Sitz hat. Eine Kritik, auf die auch die BBA-Jury verweist. Das Datenschutzniveau in den USA sei wesentlich geringer als in Europa, US-Geheimdienste hätten auf die Daten Zugriff. Der Datentransfer in die USA durch Microsoft verstoße dadurch gegen die Schrems-II-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes.

Microsoft verweist indessen darauf, dass es inzwischen 17 europäische Rechenzentren gibt, die den Datentransfer für den öffentlichen Sektor und für zahlende Großkunden vermeiden. Das Unternehmen nennt dieses Projekt EU Data Boundary“. In Deutschland hat Microsoft angekündigt, Daten deutscher Behörden zukünftig hierzulande in gemeinsamen Rechenzentren von SAP und Arvato zu speichern.

Der BBA-Jury sieht die Vorhaben aber kritisch, die mit Blick auf den Datentransfer in die USA nicht weit genug gingen. Durch amerikanische Gesetze, den Cloud-Act sowie den Foreign Surveillance Act seien die Daten immer noch nicht vor den US-Behörden sicher.

Das sind die weiteren Preisträger

In der Kategorie „Behörden und Verwaltung“ gewann Finanzminister Christian Lindner, der mit seinem Plattform-Steuertransparenzgesetz ein Gesetz schuf, das laut Jury „umfassende Vorratsdatenspeicherung über private Flohmarktverkäufe“ vorsehe. Das Fintech-Unternehmen finleap erhielt den Preis in der Kategorie „Finanzen“.

Ein Big Brother Award in der Kategorie „Kommunikation“ ging an die Videokonferenz-Plattform Zoom. Die Deutsche Post DHL Group durfte sich über einen Preis in der Kategorie „Verbraucherschutz“ freuen: Die Jury stellte fest, dass Pakete häufig nur noch per „Digitalzwang“ mit App entgegenzunehmen seien.

Die Umweltorganisationen ClientEarth, Transport & Environment (T&E), der BUND und das Brüsseler Europa-Büro des WWF und andere haben am Dienstag vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zwei Klagen gegen die Einstufung von Erdgas und Atomkraft durch die Europäische Union in der EU-Taxonomie als „nachhaltige“ Energieformen eingereicht.  Der zweite delegierte Rechtsakt der EU-Taxonomie hatte beiden Energieträgern im vergangenen Sommer ein „grünes“ Etikett verliehen – trotz der in hohem Maße klimaschädlichen Emissionen und der Atommüll- und Abhängigkeitsproblematik. Eine Gruppe der NGO konzentriert sich dabei in ihrer Klage auf Erdgas, die Umweltorganisation Greenpeace greift hingegen sowohl Erdgas als auch Atomkraft an.

Mit Hilfe der sog. Taxonomie soll eigentlich eine klimaneutrale Energiewende in der Europäischen Union finanziert werden. Die EU benennt dabei nachhaltige Investments, die den Klimawandel bekämpfen. Dieser Katalog an klima- und umweltfreundlichen Projekten soll ein neuer „grüner“ Standard an den Finanzmärkten werden. Durch die Aufnahme von Gas und Atom in diesen EU-Katalog kann seit Januar nun noch mehr Geld mit klimaschädlichen Technologien verbrannt werden und das mit dem  Etikett „nachhaltig“. Diese Einstufung beschädigt die Glaubwürdigkeit des Labels Nachhaltigkeit wie der EU massiv. Denn echten Klimaschutz gibt es bekanntlich nur mit einem Ausbau der erneuerbaren Energien. Um diesen voranzutreiben, braucht es daür dringend mehr Investitionen, statt weiter Geld in vermeintliche Brückentechnologien zu stecken.

Dazu erläuterte Jochen Krimphoff, sog. „Sustainable-Finance“-Experte beim WWF Deutschland: „Wir begrüßen die Klage gegen die EU-Kommission. Die Klage ht das Ziel, Greenwashing zu verhindern und die Glaubwürdigkeit der gesamten EU-Taxonomie zu retten. Die Einschätzung der wissenschaftlichen Beratungsplattform der EU-Kommission dazu war eindeutig: Fossiles Erdgas ist nicht nachhaltig, die Emissionen wirken sich negativ auf Klima und Natur aus. Die EU-Kommission hat ihre eigenen Expertinnen und Experten ignoriert. Wenn die EU-Taxonomie zielgerichtet Kapital in nachhaltige Aktivitäten steuern soll, dann muss sie klar und eindeutig sein. Die Finanzmärkte akzeptieren keinen Rahmen, der von der EU-Kommission hin- und hergebogen wird, wie es gerade passt. Investitionen in fälschlicherweise als nachhaltig eingestuftes Erdgas führt in die fossile Sackgasse und bremst eine ernst gemeinte ökologische Transformation aus.“

Olaf Bandt (BUND-Vorsitzender) hatte schon im vergangenen Sommer kommentiert: „Die EU-Taxonomie muss globale Nachhaltigkeitsstandards setzen. Dies steht nun auf der Kippe, nachdem selbst Banken und Investoren das dreiste Greenwashing von Atomkraft und Erdgas ablehnen. Die EU-Abgeordneten sollten mit ihrem Mandat die Weichen für einen klimagerechten Umbau des europäischen Energiesystems stellen. Das geht nur mit einer Taxonomie, die erneuerbare Energien fördert und keine fossil-atomaren Dinosaurier. Atom und Gas helfen nicht beim Klimaschutz und befördern weiterhin Abhängigkeiten von Energieimporten, unter anderem aus Russland. Die Menschen in der EU werden diese Abstimmung genau beobachten, denn hier geht es um nicht weniger als die Zukunftsfähigkeit Europas.“

Nina Treu, Geschäftsführerin von Greenpeace Deutschland, sagte:  Die EU-Kommission darf nicht das Problem als Lösung verkleiden. Atom und Gas können nicht nachhaltig sein. Deshalb zieht Greenpeace vor Gericht. Grünes Geld darf nicht für Industrien missbraucht werden, die uns erst in die Natur- und Klimakrise geführt haben. Es muss in erneuerbare Energien und den zukunftsfähigen Umbau hin zu einer sozial-ökologischen Wirtschaft fließen.

Greenpeace kritisierte, die Aufnahme von Gas und Atomkraft in die Taxonomie eröffne fossilen Gas- sowie Atomkraftwerken den Zugang zu Geldern, die sonst in erneuerbare Energien fließen würden. Die Organisation verweist auf das Beispiel des französischen Stromkonzerns Électricité de France (EDF).

Dieser habe kurz nach der Aufnahme von Atomkraft in der EU-Taxonomie im Juli 2022 bekannt gegeben, durch die Ausgabe von Taxonomie-konformen Anleihen die Instandhaltung seiner Atomreaktoren finanzieren zu wollenEDF hat seit Längerem große Probleme mit der Verfügbarkeit seiner im Schnitt mehr als 30 Jahre alten AKW, da vermehrt Wartungsarbeiten und Reparaturen nötig sind. Außerdem führt der Wassermangel im Sommer zu erheblichen Probleme mit der Kühlung der französischen AKW. Zu einem Großteil mussten sie daher in der Vergangenheit abgeschaltet werden.

 

Weitere Informationen
– Hintergrundinformationen finden sich in der gemeinsamen Stellungnahme von ClientEarth, Transport & Environment (T&E), des BUND und des Brüsseler Europa-Büros des WWF (engl.).
– Die EU-Taxonomie ist ein Klassifizierungssystem zur Festlegung, welche Investitionen als nachhaltig einzustufen sind (siehe WWF short paper – Ein Meilenstein für mehr Nachhaltigkeitstransparenz: Was eine konsistente EU-Taxonomie erreichen kann).


Texte: PM des WWF, BUND, Greenpeace Deutschland,

Update: Sonac

14. April 2023

(M)ein Update zur Sonac-Explosion:

Die Aufklärung der Sonac-Explosion in Lingen-Brögbern ist ein Musterbeispiel dafür, wie die öffentliche Bürokratie uns Nicht-Bürokraten und die ehrenamtlichen Ratsmitglieder auf den Arm nimmt (vulgo: verscheißert).

Nach der Explosion in der sog. Fleischmehlfabrik des Unternehmens Sonac in Brögern gab es über ein Jahr keine Aufklärung. Als Grund musste lange irgendetwas mit „Datenschutz“ und „staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen“ herhalten, bloß um keine Antwort darauf zu geben, worin die Ursache für die Explosion am 29. November 2021 liegt. Zuletzt hielt ein Sonac-Mitarbeiter am 25. Januar 2023 einen komplette Ratsausschuss der Stadt Lingen zum Narren und schwieg zur Explosionsursache. Seine falsche Erklärung und die von Philipp Bollmann, Leiter des städt. Umweltamtes, lautete:

„Die Vertreter des Gewerbeaufsichtsamtes würden … auch während eines laufenden staatsanwaltschaftlichen Verfahrens keine Auskünfte erteilen. Herr Schreinemacher ergänzte, dass ein Bericht zur Explosionsursache zum derzeitigen Zeitpunkt nicht möglich sei.

Dass das falsch ist, steht im Gesetz. Warum soll ein Gutachten, dass dem Gewerbeaufsichtsamt vorliegt, nicht mitgeteilt werden? Das Niedersächsische Umweltinformationsgesetz (NUIG) sieht das nur vor, sofern das öffentliche Interesse an der Bekanntgabe nicht überwiegt.

Zur Erläuterung: Das NUIG wird bald 20 Jahre alt und gründet sich auf die EU-Umweltinformationsrichtlinie aus dem Jahr 2003. Die legt für alle Behörden die Pflicht (!) fest, ihre Arbeit transparent zu machen und aktiv die vorliegenden Umweltinformationen zu verbreiten. Die Richtlinie wurde mit dem Umweltinformationsgesetz des Bundes und den entsprechenden Landesgesetzen in nationales Recht umgesetzt. Auch in Niedersachsen.

Also habe ich über die Plattform „Frag-den-Staat“ im niedersächsischen Umweltministerium nachgefragt. Zuerst kam keine Antwort. Dann habe ich Anfang März direkt den neuen niedersächsischen Umweltminister Christian Meyer (Bündnis’90/Die Grünen) via Twitter um Hilfe gebeten und binnen eines halben Tages erhielt ich eine E-Mail der Ministerialverwaltung, wonach meine Anfrage aus nicht bekannten Gründen liegen geblieben sei, sie aber jetzt an das zuständige  Gewerbeaufsichtsamt Osnabrück (GAA) weitergeleitet habe und dieses mir „bis zum 3. April“ antworten werde.

Nun, die GAA-Antwort traf erst am 5. April bei mir per Briefpost ein, wobei sie das Datum 31.03.2023 trug. Vorher war sie offenbar durch das GAA an die Stadtverwaltung Lingen -man sagt wohl- durchgesteckt worden. Die nämlich berief bereits am 4. April zur Sitzung des städtischen Umweltausschusses und des Ortsrats Brögbern für den 19. April ein. Über die Explosionsursache informierte die Stadtverwaltung dabei nicht, obwohl ihr die Unterlagen des GAA vorliegen.

Zur Sonac-Explosion verhält sich stattdessen nur eine nichts sagende Vorlage der Stadtverwaltung für diese Sitzung , die für eine Aufklärung der Explosionsursache ohne Belang ist.  Außerdem tragen in der Sitzung des Umweltausschusses (korrekt: Ausschuss für Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit) nur Personen vor, die bei und für Sonac arbeiten; das Gewerbeaufsichtsamt oder die Gutachter sind nicht eingeladen worden. Auch das ist sehr unbefriedigend.

Ich hatte die Antwort des Gewerbeaufsichtsamts noch am 5. April also an dem Tag, als ich sie erhielt, komplett an alle anderen Fraktionen im Stadtrat, die Dezernentin sowie an Michael Teschke, den Ortsbürgermeister des Stadtteils Brögbern, weitergeleitet. Ich schrieb dazu:

Sehr geehrte Kollegen,
sehr geehrte Frau Dezernentin,

in Sachen Sonac habe ich nach der unbefriedigenden Sitzung des Umweltausschusses vom 25. Januar 2023 nach  § 3 Nds Umweltinformationsgesetz eine Anfrage „zur Betriebsstörung der Sonac Lingen GmbH“ beim Nds. Umweltministerium gestellt. Dies hat die Anfrage nach einer Erinnerung beim zuständigen Minister an das Staatl. Gewerbeaufsichtsamt Osnabrück (GAA) weitergeleitet.

Heute habe ich die Antwort verhalten. Sie liegt zur Information und gefl. Verwendung an. Ich rege an, dass sich der Umweltausschuss in seiner Sitzung am 19. April 2023 mit dem weiteren Vorgehen befasst. Das Gutachten sollte durch das GAA erläutert werden. Der Ortsrat Brögbern sollte hinzugezogen werden.

Insbesondere dürfte dann darüber zu beraten sein, welche Konsequenzen für die Stadt Lingen (Ems) und ihre Einrichtungen wie bspw. die FF zu ziehen sind, auch wenn natürlich die behördliche Einschätzung beruhigt, dass nach Umstellung der Verfahrenstechnik ein Vorfall wie der vom November 2021 nicht mehr geschehen könne.

Mit freundlichen Grüßen
Robert Koop (BN-Fraktionsvors.)

Auch wenn ich auf dieses Schreiben keine Antwort von CDU, SPD, Grünen, FDP und dem Ortsbürgermeister erhalten habe, nehme ich an, dass diese Empfänger meiner E-Mail deren Inhalt an alle jeweiligen Mitglieder ihrer Fraktionen weitergeleitet haben. An die lokale Zeitung LT ist sie nämlich weitergeleitet worden. Die LT behauptete dann allerdings unvollständig und damit unkorrekt:

„Die Geschäftsleitung des Unternehmens hatte zuletzt erneut um Geduld gebeten und auch die Antwort auf die Anfrage der Bürgernahen über das Online-Portal „Frag den Staat“ zog sich in die Länge.“

Ich empfinde, die Gleichsetzung meiner NUIG-Anfrage mit der Sonac-Position schon als sehr speziell. Eine Anfrage unserer BürgerNahen gab es nie, aber meine über die Frag-den-Staat-Plattform und nur die führte nach 14 Monaten binnen weniger Wochen zur Aufklärung und Übersendung eines Sachverständigengutachtens, das bereits vom 10. Mai 2022 stammt und offenbar dem GAA Osnabrück seit langen Monaten vorliegt.

Die Auskunft des GAA hat die Stadtverwaltung nicht an die Rats- und Ortsratsmitglieder geschickt. Das finde ich nicht in Ordnung.

Diese und alle anderen können aber das GAA-Anschreiben und das Gutachten in vollem Umfang nachlesen: Hier!

Spoiler:
Gibt es jemanden in der Leserschaft dieses kleinen Blogs, der die Aussage des Gutachtens wie des GAA prüfen kann, wonach eine Wiederholung der Explosion technisch ausgeschlossen sei? Das scheint mir schon deshalb notwendig zu sein, weil nicht etwa eine neutrale Behörde sondern das betroffene Unternehmen selbst das Explosionsgutachten in Auftrag gegeben hat.

 

Zwang

18. März 2023

Der Zwang zur Abgabe von Fingerabdrücken für den Personalausweis ist umstritten. In Luxemburg fand am Dienstag dieser Woche  eine Sitzung dazu vor dem Europäischen Gerichtshof statt. Ein Bürgerrechtler hatte geklagt. Netzpolitik.org informiert:

Rechtsanwalt Wilhelm Achelpöhler (rechts) und sein Mandant, der Kläger Detlev Sieber im Verhandlungssaal
Rechtsanwalt Wilhelm Achelpöhler (rechts) und sein Mandant, der Kläger Detlev Sieber CC-BY 4.0 Konstantin Macher

Schon deutsche Gerichte hatten darauf hingewiesen, jetzt zeichnet sich auch vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein ähnliches Bild ab: Der Fingerabdruckzwang steht auf wackeligen Rechtsbeinen. Gestern wurde der Fall mündlich in Luxemburg verhandelt.

Geklagt hatte Detlev Sieber von der Bürgerrechtsorganisation Digitalcourage, zunächst vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden: Sieber verlangte von der Stadt einen Personalausweis ohne dafür biometrische Daten in Form von Fingerabdrücken zu hinterlassen. Die Richter hatten den Fall dann an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) weitergegeben (Beschl. v. 13.01.2022, Az. 6 K 1563/21.WI).

Dass die rechtlichen Bedenken aus Wiesbaden kein Einzelfall sind, hat sich in der Zwischenzeit bestätigt: Das Verwaltungsgericht Hamburg hat am 22. Februar angeordnet, dass einer Person ein Personalausweis ohne gespeicherte Fingerabdrücke ausgestellt werden soll [Az 20 E 377/23]

Zweifel aus den eigenen Reihen

Die Sitzung am EuGH fand nun vor der Großen Kammer statt – ein Zeichen, dass das Gericht sich der Dimension bewusst ist. Mehr als 300 Millionen EU-Bürger:innen sind von der Verordnung 2019/1157 betroffen. Sie verpflichtet seit 2021 alle EU-Bürger:innen, zwei Fingerabdrücke abzugeben, sobald sie einen neuen Personalausweis beantragen. Die biometrischen Daten werden anschließen auf einem Chip im Personalausweis gespeichert.

Die EU sagt, die Verordnung diene dem Fälschungsschutz und soll es den Behörden einfacher machen, eine verlässliche Verbindung zwischen einer Person und ihrem Ausweis herzustellen. Laut dem Europäischen Datenschutzbeauftragten ist das allerdings nicht notwendig.Schon 2018 hat dieser empfohlen, auf Alternativen zurückzugreifen, die in gleichem Maße Fälschungen vorbeugen – dabei aber das Grundrecht auf Datenschutz schonen.

Neben dem Fälschungsschutz gibt es noch eine zweites Argument: Mit dem neuen Perso könnten sie EU-Bürger:innen frei in und zwischen den Staaten bewegen. Für Kritiker:innen ist auch diese Begründung vorgeschoben. Schließlich besitzen die meisten EU-Bürger:innen bereits einen Reisepass. Und bei Reisen innerhalb der EU wird der Perso ohnehin kaum kontrolliert.

Vorgeschobene Gründe

Jetzt also Luxemburg. Die Parteien trugen ihre Rechtsansicht am Dienstagvormittag im Grande Salle Palais vor den 15 anwesenden Richter:innen vor. Wilhelm Achelpöhler, der Anwalt des Klägers, begann mit seinem Hauptangriffspunkt: Die Fingerabdrücke dienten nicht ausschließlich dem Zweck, dass sich Unionsbürger:innen frei in und zwischen den Staaten bewegen könnten. Im Gegenteil: Die Verordnung ließe es ausdrücklich zu, dass nationale Behörden aus beliebigen Gründen – beispielsweise für die Strafverfolgung – auf die biometrischen Daten zugreifen. „Die Verordnung begrenzt die Verwendung der Daten nicht auf das erforderliche Maß“, sagte Achelpöhler.

Der Anwalt erklärte auch noch mal, welchen Weg die Daten nehmen. Sobald EU-Bürger:innen einen Antrag für einen neuen Personalausweis stellen, nimmt die zuständige Behörde biometrische Daten in Form von zwei Fingerabdrücken. Danach verbleiben die hochsensiblen Daten bis zu 90 Tage bei der Behörde sowie beim Unternehmen, das den Ausweis anschließend erstellt. Im Regelfall sollen die Daten zwar schon bei Abholung des Ausweises gelöscht werden. Doch auf der Grundlage von nationalen Gesetzen kann der Staat in diesem Zeitraum auf die Daten zugreifen.

Nach 90 Tagen verringert sich die Gefahr eines Zugriffs: Die Daten sind dann nur noch auf einem kleinen Chip im Personalausweis. Auf diesen können Behörden nur noch mit einem speziellen Lesegerät zugreifen. Und nur zu dem Zweck, um den Ausweis und die Identität der Person auf Echtheit zu überprüfen.

90 Tage Wilder Westen

90 Tage sind dennoch eine lange Zeit für die EU, die sich sonst gerne als Vorreiter in Fragen des Datenschutzes positioniert. Achelpöhler sagt in der Verhandlung dazu: „Warum soll man bei der Ausstellung eines Personalausweises Fingerabdrücke der Bürger erheben und diese für 90 Tage zu jedem potentiellen Zweck des nationalen Rechts verwenden?“ Ein solche Regelung verunsichere die Bürger:innen und führe zu der Befürchtung, dass der Staat anlasslos die Daten gegen sie verwendet.

Konstantin Macher, ein Sprecher von Digitalcourage, erhob in einer Pressemitteilung nach der Verhandlung noch einmal ganz grundsätzliche Kritik: „Auch auf mehrere Nachfragen hin konnten EU-Kommission und Rat nicht erklären, wie eine Gefahr für die biometrischen Daten der betroffenen Bürger.innen ausgeschlossen werden soll. Das lässt sich auch gar nicht verhindern: wenn die Daten einmal erhoben werden besteht das Risiko des Datenlecks und des Missbrauchs. Darum sollte es erst gar keine Fingerabdruckpflicht geben.“

Vertreter:innen von Kommission, Parlament und Rat verteidigten den Fingerabdruckzwang vor dem EuGH vehement. Das ist wenig überraschend, schließlich geht die Verordnung auf diese Institutionen zurück. Eine Vertreterin des Rats der Europäischen Union betonte in ihrem Statement immer wieder, dass die Daten vor Zugriff sicher seien.

Der nächste Schritt im Verfahren ist jetzt die Veröffentlichung der Schlussanträge der Generalanwältin am 29. Juni. In den allermeisten Fällen folgt das Gericht diesen Anträgen. Ein Termin für die endgültige Urteilsverkündung steht noch nicht fest.


Ein Beitrag von Jan Lutz auf netzpolitik.org, Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

„Der Chatkontrolle endlich alle Giftzähne ziehen“

Die Durchsuchung von Inhalten auf verschlüsselten Messengern wie WhatsApp ist in der Bundesregierung endlich vom Tisch. Doch weiterhin drohen mit der EU-Verordnung Netzsperren, Mailkontrolle und die Überwachung von privaten Cloudspeichern. Dagegen muss die Bundesregierung sich jetzt klar positionieren, kommentiert Markus Reuter auf Netzpolitik.org.

Giftextraktion einer Gabun-Viper. Schlange beißt in Folie auf Glas.
Im politischen Feld läuft die Giftextraktion etwas anders als bei einer Gabun-Viper. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / imagebroker

Die gestrige Anhörung zur Chatkontrolle im Bundestag hat gezeigt: Es gibt keine seriösen Expert:innen mehr, die an einer anlasslosen Durchsuchung von Inhalten mittels Client-Side-Scanning festhalten. Nicht einmal der Union ist es gelungen, jemanden zu finden, der sich für diese Überwachung von Messengern wie WhatsApp oder Signal vor der Verschlüsselung ausspricht. Die Einmütigkeit aller Sachverständigen vom Internet-Ermittler bis zum Kinderschutzbund gegen die Chatkontrolle hat das eindrucksvoll gezeigt.

Doch die geplante EU-Verordnung, die vermeintlich Kinder schützen soll, ist weit mehr als nur diese Chatkontrolle mit Client-Side-Scanning. Tatsächlich könnte die SPD sich jetzt hinstellen und sagen: „Seht her, wir haben die Chatkontrolle verhindert und Bürgerrechte gerettet, alles wird gut.“ Doch noch ist gar nichts gut. Wie das von netzpolitik.org veröffentlichte Positionspapier des Bundesinnenministeriums (BMI) zeigt, will das von der Sozialdemokratin Nancy Faeser geführte Haus an vielen umstrittenen Maßnahmen der EU-Verordnung festhalten – gegen den Willen der Koalitionspartner und gegen den Koalitionsvertrag.

Faeser will weiterhin Mail- und Cloudkontrolle

So will das BMI weiterhin unverschlüsselte E-Mails und Messenger durchsuchen und damit anlasslos die private Kommunikation all derer durchsuchen, die keine Verschlüsselung benutzen oder benutzen können. Außerdem will das Ministerium weiter ohne Verdacht auf privaten Cloudspeichern herumschnüffeln, auch wenn die Menschen dort nur ihr Handy-Backup oder ihre Hochzeitsbilder ablegen. Als würde die Privatheit der Daten erlöschen, nur weil die Festplatte im Internet steht.

Das BMI will weiterhin mit unausgereifter Technik und Horror-Fehlerquoten nach neuem, bislang unbekannten Missbrauchsmaterial suchen, obwohl dadurch nach Aussagen von Experten Millionen unbescholtener Bürger:innen unschuldig Verdacht geraten und Ermittlungsbehörden überlastet werden können.

Faesers Ministerium stellt sich außerdem nicht komplett gegen die geplante Altersverifikation der Verordnung, welche mit einer Ausweispflicht die Anonymität im Internet und Open Source Software gefährdet. Und obendrein hat sich die Bundesregierung noch nicht gegen die in der Verordnung geplanten Netz-Sperren positioniert, obwohl das Modell von Löschen statt Sperren seit Jahren ein großer Erfolg ist.

Endlich alle Giftzähne ziehen

Es gibt also noch viel zu tun. Zuerst muss die Bundesregierung sich endlich dafür entscheiden, dass sie den Koalitionsvertrag vollständig einhält und der umstrittenen EU-Verordnung die vielen grundrechtsfeindlichen Giftzähne zieht.

Denn die EU-Verordnung ist eine Mogelpackung, die am Ende kaum Kindern hilft, dafür aber alle Menschen unter Generalverdacht stellt. Kinderschutz und Datenschutz sind keine Gegensätze, sondern gehen Hand in Hand. Komplexe gesellschaftliche Probleme bekommen wir nicht mit Technik und Massenüberwachung in den Griff, sondern mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen.

Schlussendlich muss das Innenministerium, das für Deutschland auf EU-Ebene verhandelt, endlich klare Kante zeigen, statt weiter auf Zeit zu spielen. Bei den EU-Verhandlungen heißen viele Staaten die Verordnung gut oder sind unentschieden. Doch es gibt auch Gegner und zusammen mit den Niederlanden, Österreich und einem weiteren EU-Staat ist eine Sperrminorität möglich. Daran käme dann die EU-Kommission mit ihren Überwachungsplänen nicht mehr vorbei.

KI

1. März 2023

Das EU-Programm „Agrifood TEF“ fördert Forschungsprojekte zum Einsatz künstlicher Intelligenz in der Landwirtschaft an der Hochschule Osnabrück.

Landwirtschaft – diejenigen, die mit ihr seltener in Berührung kommen, Kühe nur von der Schokoladenverpackung und Äcker von Desktop-Hintergrundbildern kennen, haben oft eine romantische Vorstellung davon, wie dort gearbeitet wird. Dass Landwirtschaft nicht isoliert von Modernisierungsprozessen stattfindet, ­sondern eher das Gegenteil der Fall ist, zeigt ein Forschungsprojekt zu autonomer Agrartechnik im Ackerbau in Osnabrück.

Entsprechende Forschungen, bei denen die Deutsche Forschungsstelle für künstliche Intelligenz (DFKI), die Hochschule Osnabrück und Agrotech Valley beteiligt sind, werden durch die Förderinitiative Agrifood Testing and Experimentation ­Facility – kurz „Agrifood TEF“ – mit bis zu zehn Millionen Euro von der EU finanziert. Die Initiative agiert inzwischen europaweit und hat auch Forschungsstandorte in Frankreich und ­Italien.

Doch warum braucht man überhaupt mehr Maschinen in der Landwirtschaft, die ­Arbeiten ohne oder mit geringer menschlicher Beteiligung erledigen? Künstliche Intelligenz im Ackerbau – ist das noch natürlich? Die Antworten sind vielfältig: Zum einen ist auch die Landwirtschaft von den großen Problemen der Gegenwart betroffen: Der Klimawandel sorgt für eine kürzere Erntesaison und geringere Erträge. Auch der Fachkräftemangel ist in dem ohnehin eher unbeliebten Berufsfeld groß.

Der Einsatz KI-basierter Technik kann also bei der Kontrolle der Felder und der Beschaffenheit des Bodens behilflich sein. Ackerarbeiten, die sonst mit mehreren von Personen geführten Maschinen bewältigt werden müssen, kann künftig ein einzigen Roboter erledigen.

Hinzu kommt, dass…

[weiter in der taz]

Kein Schutz

12. Februar 2023

Das Hinweisgeberschutzgesetz ist im Bundesrat gescheitert. Einigen Ländern -mit Regierungsbeteiligung von CDUCSU- gingen die Regelungen zu weit. Nun wird es wohl weitere Monate dauern, bis Deutschland mehr Rechtssicherheit für Whistleblower:innen schafft.

Im Dezember hatte das Hinweisgeberschutzgesetz die letzte Hürde im Bundestag genommen. Es sollte Whistleblower:innen Rechtssicherheit geben, wenn sie Missstände aufdecken wollen. Doch trotz kritisierter Lücken ging das Gesetz offenbar einigen unionsgeführten Ländern im Bundesrat zu weit: Sie blockierten das Gesetz in einer Abstimmung am Freitag vor zwei Tagen .

So warnte etwa Hessens Justizminister Roman Poseck [CDU], dass nicht alle Hinweisgebenden „Gutes im Schilde“ führen würden. Hessen würde sich bei der Abstimmung enthalten. Andere bemängelten, dass das Gesetz über die EU-Vorgaben hinaus gehe. Die Mindeststandards in einer EU-Richtlinie besagen beispielsweise, Hinweisgebende müssten Verstöße gegen EU-Recht abgesichert melden können. In der deutschen Umsetzung war diese Absicherung auch für bestimmte Verstöße gegen deutsche Gesetze geplant. Außerdem waren kurz vor der finalen Abstimmung auch etwa verfassungsfeindliche Äußerungen von Beamt:innen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle aufgenommen worden. Ebenso wie eine Pflicht für anonyme Meldewege.

Transparency Deutschland kritisierte die Blockade. Gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte Sebastian Oelrich, Co-Leiter der Arbeitsgruppe Hinweisgeberschutz: „Einige Union-geführte Länder haben heute mit fachlich fragwürdigen und zum Teil schlicht unrichtigen Argumenten das Gesetz zum Schutz von Hinweisgebenden blockiert.“ Dass nun weiter große rechtliche Unsicherheit für Hinweisgebende bestehe sei „im internationalen Vergleich ein Armutszeugnis“.

Tatsächlich ist Deutschland bei der Umsetzung der EU-Vorgaben zu spät dran: Eigentlich hätten die Vorgaben der Richtlinie bis Ende 2021 umgesetzt werden müssen, das scheiterte jedoch an Uneinigkeit der damaligen Großen Koalition. Die neue Ampelregierung hat daraufhin einen neuen Anlauf gestartet.

Da es nun zum Konflikt zwischen Bundestag und Bundesrat gekommen ist, könnte das Gesetz in den sogenannten Vermittlungsausschuss gehen, um einen Kompromiss zu finden. Das kann mehrere Monate dauern.

Till Steffen, Mitglied im Rechtsausschuss für die Grünen, hat inzwischen angekündigt: „Die Ampel hält an dem Gesetz fest. In der Ampel haben wir besprochen, dass wir den Gesetzentwurf inhaltsgleich in einer nicht zustimmungspflichtigen Form erneut in den Bundestag einbringen werden und zwar so schnell wie möglich. Am Schutz der Hinweisgerberinnen und Hinweisgeber wird es keine Abstriche geben. Die Ablehnung im Bundesrat wird ein Pyrrhussieg für die Union bleiben.“


ein Beitrag von auf netzpolitik.orgCreative Commons BY-NC-SA 4.0.

Die EU will die Gefahren von politischem Microtargeting und verdeckten Online-Kampagnen endlich entschieden begrenzen. Doch damit die neue Verordnung ihr Versprechen einlösen kann, muss sich das Parlament gegen Rat und Kommission durchsetzen. Ein Netzpolitk.org-Kommentar.

Eine Hand wirft einen Brief in eine Box

Neue Regeln für politische Online-Werbung sollen schon zur EU-Wahl 2024 gelten Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Element5 Digital

Das Europäische Parlament hat gestern ein Verhandlungsmandat für eine Verordnung angenommen, die die Auswertung personenbezogener Daten für gezielte politische Werbebotschaften stark einschränken soll. Noch vor der Europawahl im kommenden Jahr soll so transparenter werden, wer Werbeanzeigen schaltet und Kampagnen finanziert. Außerdem soll die neue Verordnung die Nutzung persönlicher Daten einschränken, mit denen politische Werbebotschaften zielgenau auf Gruppen und einzelne Menschen zugeschnitten werden können.

Eine solche Regulierung ist seit langem überfällig. Denn die vergangenen Jahre haben allzu deutlich gemacht, dass weder Parteien und Politiker:innen noch Social-Media-Plattformen und andere Werbefirmen willens oder in der Lage sind, sich selbst zu kontrollieren. Das Geschäft mit der Werbemanipulation ist offenkundig zu lukrativ – für alle Beteiligten.

Auch haben verschiedene Skandale immer wieder gezeigt, wie groß das Missbrauchspotential von Microtargeting und verdeckten Kampagnen in der politischen Kommunikation ist. So nahm das Team des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump im Jahr 2016 die Dienste von Cambridge Analytica in Anspruch. Das britische Unternehmen sollte dabei helfen, mit Hilfe zielgerichteter Online-Werbung Schwarze US-Bürger:innen von ihrer Stimmabgabe abzuhalten. Derweil verkaufte die Österreichische Post Information über die politische Affinität von Millionen Österreicher:innen an Parteien. Immer wieder gab es in den vergangenen Jahren fragwürdige Online-Kampagnen, deren Urheber:innen und Sponsor:innen verschleiert wurden.

Das Parlament muss sich im Trilog durchsetzen

Vor diesem Hintergrund ist heute ein besonderer Tag – auch für mich persönlich. Seit Jahren schreibe ich über die Gefahren von datengetriebenem Targeting in der politischen Kommunikation. Ich habe zu dem Thema Vorträge auf Konferenzen und Fachsymposien gehalten sowie Medien und Wissenschaftler:innen als Experte Rede und Antwort gestanden. Noch vor dem Cambridge-Analytica-Skandal habe ich den Einfluss der umstrittenen Kommunikationstechnik auf den Bundestagswahlkampf 2017 untersucht. Und gemeinsam mit anderen habe ich die Methoden von Cambridge Analytica und Donald Trumps Erfolgskampagne analysiert sowie den  und der in Europa beleuchtet.

Man sollte als Journalist die eigene Wirksamkeit nicht überschätzen. Neben mir gibt es viele andere Menschen in Medien, Forschung, Zivilgesellschaft und Politik, die das Thema kontinuierlich bearbeiten. Immer wieder kamen wir alle zu dem Schluss: Die Folgen von gezielter Werbung sind zu gravierend, um sie weitgehend unkontrolliert den Plattformen und Parteien zu überlassen. Deshalb war ich gespannt, als die EU-Kommission die neue Verordnung vorgeschlagen hat. Nach der heutigen Entscheidung geht der Entwurf nun in die finalen Verhandlungen, also in den Trilog zwischen Parlament, Rat und Kommission.

Uneingeschränkt freuen kann ich mich aber erst, wenn dabei am Ende auch ein vernünftiges Gesetz herauskommt. Denn der Aufschlag der EU-Kommission hat zwar die Hebel an den richtigen Stellen angesetzt. Doch ihm fehlte die Kraft. Die halbherzigen Vorschläge der Kommission wollen die Mitgliedstaaten im Rat obendrein noch weiter aufweichen. Will die EU aber Ernst machen und mit der neuen Verordnung einen weiteren Cambridge-Analytica-Skandal verhindern, dann muss sich vor allem das Parlament im Trilog durchsetzen.

Weniger Daten, mehr Transparenz

Denn im Vergleich zu Kommission und Rat will nur das Europäische Parlament das Targeting deutlich einschränken. Bedauerlicherweise strebt die Mehrheit der Abgeordneten zwar kein umfassendes Verbot gezielter Werbung an. Die vorgeschlagenen Regeln sind aber immerhin so streng formuliert, dass sie deren Missbrauch in der politischen Online-Kommunikation deutlich verringern könnten.

Kommission und Rat hingegen möchten den Status quo in weiten Teilen beibehalten. Ging es nach ihnen, wäre mit der informierten Einwilligung“ als Rechtsgrundlage weiter alles möglich, von dem wir längst wissen, dass es der Demokratie schadet. In Zeiten von Dark Patterns und Plattformmonopolen, die die Autonomie von Nutzer:innen und Bürger:innen gezielt untergraben, ist dies jedoch unzureichend.

Auch beim Thema Transparenz sind Rat und Kommission auf halber Strecke stehengeblieben. Geht es nach ihnen, soll politische Online-Werbung künftig zwar mit weitergehenden Informationen versehen werden. Auf diese Weise soll unter anderem leichter erkennbar werden, wer die jeweilige Werbung finanziert. Doch nur das Parlament fordert, auch Informationen über die Zielgruppenkritierien zu veröffentlichen. Dank dessen könnten Bürger:innen dann ermessen, aus welchen Gründen ihnen eine Anzeige angezeigt wird und Rückschlüsse auf die Absichten der Politiker:innen ziehen.

Und nur das vom Parlament geforderte Transparenzregister, das sämtliche politische Anzeigen auflisten soll, böte den Bürger:innen künftig einen Überblick darüber, mit welchen Botschaften sich politische Parteien an bestimmte Zielgruppen wenden.

Eine Chance für die Demokratie

In den vergangenen Monaten war die Sorge gewachsen, dass die Verordnung auch für herkömmliche Tweets oder Videos gelten könnte, in denen sich Menschen zu Wahlen oder Abstimmungen äußern. Das Parlament entzieht diesen Befürchtungen nun den Boden. Es will klarer definieren, dass von der Verordnung nur Werbung im engeren Wortsinn erfasst wird.

Gewiss, auch der Entwurf des Parlaments ist nicht perfekt. Google und eine Anzahl von Nichtregierungsorganisationen haben sich für ein engen Anwendungsbereich der Verordnung eingesetzt. Sie bezieht sich nun beispielsweise nicht auf die internen Abläufe von Parteien. Diese haben damit weiterhin die Möglichkeit, eigene Datensammlungen für Targeting-Kampagnen zu nutzen, die keinen weitergehenden Transparenzanforderungen unterliegen. Auch das übliche Vorgehen von Plattformen, bestimmte Inhalte gezielt zu forcieren und damit politische Diskurse zu prägen, lässt das Parlament weitgehend unangetastet.

Dennoch kann diese Verordnung einen wichtigen Beitrag dazu leisten, demokratische Prozesse nachhaltig zu schützen. Für politische Akteur:innen bietet sich damit auch eine Chance: Sie können Nutzer:innen künftig wieder weniger als Datenpunkte, sondern wieder mehr als Bürger:innen betrachten, mit denen sie auch online den Austausch suchen sollten. Wenn wir alle uns wegen der neuen Regelung fortan weniger Gedanken um Datenmissbrauch und intransparente Manipulation machen müssen, bleibt mehr Zeit, um die Möglichkeiten der Digitalisierung in den Dienst von Teilhabe und Demokratie stellen können.


Ein Kommentar von  auf Netzpolitik.org / Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

Nachsatz von mir:
Auch die CDU nutzt übrigens ein Programm („connect„) und vertreibt es an ihre Funktionäre, das das Micro-Targeting zum Inhalt hat. Im letzten Bundestagswahlkampf 2021 wurde die Frage danach, weichgespült, so beantwortet:“Wir verfolgen in unserer Kampagne und Ansprache einen wählerzentrierten Ansatz und steuern unsere thematischen Angebote daher auch zielgerichtet aus. Im wesentlichen richten wir uns dabei nach Regionen (Postleitzahlgebieten). Nur im Rahmen der hohen deutschen Datenschutzstandards nutzen wir die Möglichkeiten der gezielten Wähleransprache, um mit Menschen in den Dialog zu treten.“ (FR)

Angesichts seiner Gefahren für die demokratische Willens- und Meinungsbildung findet sich Microtargeting auf der Website der Landesmedienanstalt NRW unter dem Menupunkt „Desinformation“. Zu recht.  Mehr …