Mehr als 700 Rechtsanwälte, Rechtsanwältinnen, Juristen und Juristinnen haben am Freitag diesen offenen Brief an die Bundesregierung, die Ministerpräsident*innen der Länder und an Abgeordnete des Deutschen Bundestages und Europaparlaments veröffentlicht:

Genau 30 Jahre nach dem sogenannten Asylkompromiss kritisieren wir die geplanten Verschärfungen des Flüchtlingsrechts auf nationaler und europäischer Ebene auf das Schärfte und lehnen sie entschieden ab.

Die geplanten Maßnahmen der Bundesregierung bedeuten nach Ansicht der Erstunterzeichnerin Berenice Böhlo einen Paradigmenwechsel, der das Asylverfahren demontiert: „Statt sicheren Zugang zum Schutz, sind Haft und Rechtlosigkeit die europäische Antwort auf die gegenwärtigen Krisen der Menschheit.“

Mit Schnellverfahren an den Außengrenzen und der Fiktion der Nicht-Einreise wird ein Zustand der Rechtslosigkeit geschaffen, der mit der Einrichtung von Internierungslagern einhergeht.

Zudem sollen Ausreisezentren geschaffen und eine systematische Inhaftierung der Schutzsuchenden erfolgen und ein Zwei-Klassen-Asylsystem eingeführt werden.

Die Politik der Abschottung und die geplanten Änderungen auf nationaler und europäischer Ebene stellen nach Ansicht von Dr. Matthias Lehnert das Recht von Geflüchteten als solches in Frage und gefährden den Rechtsstaat selbst: „Effektiver Rechtsschutz an den Außengrenzen ist ein Grundpfeiler des Rechtsstaats und darf nicht durch ein Monitoring-System ersetzt werden.“

Statt eine Ausweitung der gescheiterten europäischen Asyl- und Migrationspolitik, fordern Jurist*innen das bestehende europäische System zu evaluieren und  zu verbessern. Es braucht echte Solidaritätsmechanismen in Europa.

„Das aus den Lehren des Nationalsozialismus geborene Flüchtlingsrecht ist kein hehrer Grundsatz. Es geht um ein fundamentales Menschenrecht, das mit einem effektiven Verfahren flankiert werden muss. Schutzansprüche und Verfahrensrechte haben verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Rang. Wir fordern die Bundesregierung und die verantwortlichen Politiker*innen auf, sich auf Verfassung und Menschenrechte zu besinnen, anstatt in einer aufgeladenen Debatte tragende Grundpfeiler des Rechtsstaates über Bord zu werfen.“

Konkret werden vor allem folgende Forderungen erhoben:

  • Der Zugang zum Recht darf nicht durch eine faktische Abschaffung des Asylrechts unterminiert werden.
  • Der effektive Rechtsschutz an den Außengrenzen muss gewährleistet sein.
  • Es darf keine Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten geben.
  • Es sollen keine Migrationsabkommen mit Staaten abgeschlossen werden, die Menschen- und Flüchtlingsrechte nicht gewährleisten.
  • Das Konzept der „sicheren Drittstaaten“ darf nicht durch eine Senkung der völkerrechtlichen Standards ausgeweitet werden.
  • Es muss ein echter Solidaritätsmechanismus in Europa etabliert werden.

Hier der Offene Brief im Wortlaut.

Einschüchterung

25. Mai 2023

Gestern früh gab es Razzien bei der Letzten Generation. Erik Peter (taz) hat dazu das kommentiert, was zu sagen ist. „Die Durchsuchungen bei Klimaaktivist*innen zielt auf ihre Einschüchterung. Der Vorwurf, sie gefährdeten die öffentliche Sicherheit, ist absurd.

Es ist ein verräterischer Satz in der Mitteilung des Bayerischen Landeskriminalamts, das die Ermittlungen gegen die Letzte Generation aufgrund des Vorwurfs der Bildung oder Unterstützung einer kriminellen Vereinigung führt: „Aufgrund zahlreicher Strafanzeigen aus der Bevölkerung“ seien die Ermittlungen eingeleitet worden, die am Dienstag zu 15 Hausdurchsuchungen bundesweit führten. Die Motivation ist eindeutig: Weil die öffentliche Meinung zunehmend auf eine Verfolgung der Ak­ti­vis­t:in­nen drängt, greift der Staat jetzt durch.

Wie sehr die Ermittler ein Zeichen der Stärke setzen wollten, zeigt auch die Beschlagnahmung der Website der Klimaschutzgruppe und die Weiterleitung auf eine eigene Seite, auf der tatsächlich stand: „Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung gemäß § 129 StGB dar!“ Ganz so, als könnten Polizeibehörden oder die Oberstaatsanwaltschaft darüber entscheiden und nicht Gerichte.

Doch das Vorgehen passt zum Paragrafen 129 StGB, der zwar die Ultima Ratio für die Abwehr von Gefahren für die Demokratie sein sollte, in der Realität aber auch ein politisches Verfolgungs­instrument ist. Die gesetzlichen Bedingungen für die Einstufung als kriminell sind windelweich. Der entscheidende Passus, wonach die Aktionen eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedeuten müssen, findet sich nur in der Gesetzesbegründung.

Kein Wunder, dass viele Ermittlungen nach Paragraf 129 StGB ins Leere laufen. Verurteilt werden zumeist echte Terrorgruppen, wie etwa Nazikameradschaften. Der Zweck aber ist sowieso ein anderer: Der Schnüffelparagraf gibt umfassende Befugnisse, von der Überwachung der Telekommunikation bis zum Einsatz von V-Leuten, und dient damit der Einschüchterung. Nicht weniger wichtig: Er delegitimiert die betroffenen Akteure.

Da es um das Ausforschen einer Gruppe, die bis zu ihrer Buchhaltung alles transparent macht, nicht gehen kann, bleibt die Bedrohung der Ak­ti­vis­t:in­nen und ihre öffentliche Markierung. Dass ihre mitunter strafbaren Aktionen die öffentliche Sicherheit bedrohen sollen, ist ein absurdes ­Konstrukt. Die Letzte Generation agiert öffentlich statt klandestin, friedlich statt militant und für ein demokratisches, nicht autoritäres Anliegen.“

Weder bedeuten Staus diese Bedrohung noch ihre symbolischen Aktionen an Pipelines, in Museen oder an Flughäfen. Die Letzte Generation legt offen, dass die Bundesregierung am Klimaschutz scheitert. Nun zeigt sie unfreiwillig auch noch, dass dieser Staat lieber seine Rechtsstaatlichkeit untergräbt, als endlich zu handeln.

Mehr…
Quelle: ERIK PETER, taz

Verpackungssteuer

24. Mai 2023

Tübingen darf eine Verpackungsteuer auf Einwegbecher und Essensverpackungen erheben. Das hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden. Damit unterlag die Franchisenehmerin einer McDonald’s-Filiale in der südwestdeutschen Universitätsstadt, die – unterstützt von dem Fast-Food-Konzern- gegen die kommunale Verpackungssteuersatzung geklagt hatte (Az.: BVerwG, Atenzeichen 9 CN 1.22).

Der parteilose Tübingener Oberbürgermeister Boris Palmer  sprach nach dem Urteil der höheren Instanz nun von einem „tollen Tag für Tübingen und für den Klimaschutz allemal“.

Seit Anfang 2022 werden in Tübingen je 50 Cent für Einweggeschirr und Einwegverpackungen sowie 20 Cent für Einwegbesteck fällig, höchstens aber 1,50 Euro pro „Einzelmahlzeit“. Zahlen müssen die Verkäufer der Speisen und Getränke – nach Angaben der Stadt rund 440 Betriebe in Tübingen. Wegen des laufenden Rechtsstreits wurden bisher aber noch keine Steuern eingezogen.

McDonald’s kündigte an, dass die Franchise-Nehmerin eine Verfassungsbeschwerde prüfen wolle. „Aktuell gilt es nun erst einmal, noch die schriftliche Begründung des Gerichts abzuwarten“, ließ der Konzern erklären.

Nach Überzeugung des Bundesverwaltungsgerichts hat Tübingen die Kompetenz, eine solche Steuer zu erheben. Speisen zum Mitnehmen würden „typischerweise“ sehr bald gegessen und blieben damit meist im Gemeindegebiet. Es handele sich daher um eine örtliche Steuer. Die Satzung stehe zudem nicht im Widerspruch zu den Abfallregeln des Bundes. Beide verfolgten exakt dasselbe Ziel – nämlich die Vermeidung von Abfall.

Die Deutsche Umwelthilfe forderte Städte und Gemeinden auf, dem »Tübinger Erfolgsmodell« zu folgen und den Druck auf Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) zu erhöhen, damit eine bundesweite Einweg-Abgabe auf „to-go“-Verpackungen eingeführt wird.

In den 1990er Jahre hatte die bundesdeutsche Justiz noch Nein zu einer lokalen Verpackungssteuer gesagt. Die Lingener Grünen hatten daraufhin einen Vorstoß zu einer kommunalen Steuer für Einwegverpackungen nicht weiter verfolgt. Seither gab es den Verpackungsdreck frei Grundstück. Der örtliche Franchisenehmer der Fa McDonalds ließ sich in den Jahren danach für das Bereitstellen von Mülleimern feiern, die aber nicht funktionierten und wieder abgebaut wurden.

Jetzt ist offenbar die Gelegenheit, wirklich etwas gegen den Müll in unserer Umwelt zu tun.


Quellen: SPON, LTO

Weitere Informationen

Seit 1997 widmet sich der Grundrechte-Report der Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Der Report ist ein Projekt der Humanistischen Union, des Bundesarbeitskreises kritischer Juragruppen, des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung, der Gesellschaft für Freiheitsrechte, der Internationalen Liga für Menschenrechte, des Komitees für Grundrechte und Demokratie, der Neuen Richtervereinigung, von PRO ASYL, des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins und der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen. Als „alternativer Verfassungsschutzbericht“ dokumentiert er die vielfachen Bedrohungen, die von staatlichen Institutionen für diese Rechte ausgehen. Der Grundrechte-Report 2023 wird am morgigen 23. Mai, dem Tag an dem vor 74 Jahren das Grundgesetz verkündet wurde, im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin sowie im Livestream vorgestellt.

Der aktuelle Report arbeitet das vergangene Jahr auf und nimmt unter anderem die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine, die Kämpfe um soziale Gerechtigkeit und die intensivierten Auseinandersetzungen um den  Klimawandel in den Blick. In seinen 38 Beiträgen zeigt der alternative Verfassungsschutzbericht erneut auf, wie Gesetzgebung, Verwaltung und Behörden, aber auch Gerichte und Privatunternehmen die demokratischen und freiheitlichen Grundlagen unserer Gesellschaft gefährden. Dazu gehören auch die Versammlungsfreiheit, Überwachungsmaßnahmen durch Polizei und Geheimdienste, die Kriminalisierung von Armut, menschenrechtswidrige Abschiebungshaft und die Entwicklungen um das Abtreibungsverbot in Deutschland.

„Viele denken bei der Wahrung von Bürger- und Menschenrechten an Regime im Ausland. Aber auch bei uns müssen die Grundrechte geschützt und verteidigt werden.“ betonte Ferda Ataman bei der Präsentation des Grundrechte-Reports im vergangenen Jahr. Und das trifft es genau!

Netzpolitik.org veröffentlichte am vergangenen Wochenende vorab mit Genehmigung des S.Fischer-Verlags den Beitrag von Rainer Rehak aus dem Grundrechte-Report 2023. Er informiert  über die Gefahren zentralisiertenr Gesundheitsdaten. [hier der Beitrag zum Nachlesen] Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft (WZB) und Ko-Vorsitzender des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF).

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Grundrechte-Report 2023. Herausgegeben von: Benjamin Derin, Rolf Gössner, Wiebke Judith, Sarah Lincoln, Rebecca Militz, Max Putzer, Britta Rabe, Rainer Rehak, Lea Welsch, Rosemarie Will, ISBN: 978-3-596-70882-6. 224 Seiten. E-Book und Taschenbuch. S. Fischer Verlag

Livestream morgen (Dienstag) ab 10 Uhr!

Die EU-Kommission möchte mit einer Chatkontrolle unsere Kommunikation im Internet umfassend überwachen. So sollen sämtliche Nachrichten in sozialen Medien, Chats und Webseiten, aber auch bisher Ende-zu-Ende-verschlüsselte Messengernachrichten kontrolliert werden. Durch die Überwachung all unserer Nachrichten möchte die EU-Kommission Missbrauchsdarstellungen von Kindern und Jugendlichen finden. Doch statt Kindesmissbrauch zu verhindern, schafft die EU-Kommission damit eine Reihe neuer Probleme für uns alle.

Eine massenhafte Kontrolle der gesamten digitalen Kommunikation ist nichts anderes als eine Massenüberwachung und stellt uns alle unter Generalverdacht. Damit schafft die EU-Kommission de facto eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und damit jede private Kommunikation und ein wichtiges demokratisches Grundrecht einfach ab. Denn verschlüsselte und sichere Kommunikation ist nicht nur Grundlage für politischen Aktivismus, für kritischen Journalismus, Whistleblowing und Anwältinnen- und Ärztegeheimnis sondern für jede vertrauliche und intime Kommunikation und das Leben in einer demokratischen Gesellschaft.

Der Juristische Dienst des EU-Rats bezeichnet jetzt die Chatkontrolle als rechtswidrig und erwartet, dass Gerichte das geplante Gesetz wieder kippen. Die EU-Staaten nehmen das Gutachten zur Kenntnis und verhandeln trotzdem einfach weiter. Wir (netzpolitik.org) veröffentlichen ein eingestuftes Verhandlungsprotokoll.

Vor einem Jahr hat die EU-Kommission eine Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern vorgeschlagen. Das Gesetz soll Anbieter von Internetdiensten verpflichten, per Anordnung die Inhalte ihrer Nutzer:innen zu durchsuchen und strafbare Kinderpornografie sowie Grooming an ein EU-Zentrum weiterzuleiten – die Chatkontrolle.

Im Bundestag kritisierten alle Sachverständigen bis zum Kinderschutzbund: Die Chatkontrolle ist nicht notwendig, nicht effektiv und nicht verhältnismäßig. Jurist:innen bezeichnen die Maßnahmen als grundrechtswidrig und erwarten, dass Gerichte die Chatkontrolle kippen. Das sagen die deutschen und europäischen Datenschutzbeauftragten, die Wissenschaftlichen Dienste von Bundestag sowie EU-Parlament und jetzt auch der Juristische Dienst des EU-Rats.

Die EU-Staaten verhandeln den Gesetzentwurf in der Ratsarbeitsgruppe Strafverfolgung. Ende April ging es erneut ausschließlich um die geplante Verordnung. Wir veröffentlichen ein weiteres Mal das eingestufte Protokoll der Verhandlungsrunde im Volltext.

Besonders schwerer Eingriff in Grundrechte

Zu Beginn der Sitzung stellte der Juristische Dienst des EU-Rats sein Gutachten vor. Demnach verstößt das geplante Gesetz gegen die Grundrechtecharta. Die Chatkontrolle betrifft alle Nutzer:innen der verpflichteten Kommunikationsdienste, „ohne dass diese Personen auch nur indirekt in eine Situation geraten, die eine strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen könnte“. Diese allgemeine und unterschiedslose Kontrolle ist unverhältnismäßig und erfüllt die Voraussetzungen für Grundrechtseingriffe nicht.

Der Europäische Gerichtshof hat mehrmals klargestellt, dass die Vorratsdatenspeicherung unvereinbar mit der Grundrechtecharta ist. Die Chatkontrolle geht noch über die Vorratsdatenspeicherung hinaus: Sie betrifft nicht nur Verkehrs- und Standortdaten, sondern auch Kommunikationsinhalte. Und sie richtet sich nicht nur gegen Terrorismus und Gefahren nationaler Sicherheit, sondern gegen Straftaten. Wenn das oberste EU-Gericht die Vorratsdatenspeicherung kippt, dann die Chatkontrolle erst recht.

Die Jurist:innen des EU-Rats wählen starke Worte. Die Chatkontrolle „beeinträchtigt den Wesensgehalt der Grundrechte“. Das Grundrecht auf Vertraulichkeit der Kommunikation könne „unwirksam und inhaltsleer“ werden. Es besteht „die ernsthafte Gefahr, sogar den Kern des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens“ zu verletzen. Um irgendwie rechtmäßig zu werden, müsste sich die Chatkontrolle auf Personen beschränken, die mit sexuellem Missbrauch in Verbindung stehen.

Zehn Staaten ignorieren Rechtsgutachten

Die EU-Kommission, die den Gesetzentwurf vorgeschlagen hat, widerspricht der juristischen Bewertung des Rats ausdrücklich. Die Kommission geht „von einer grundlegend anderen rechtlichen Bewertung aus“. Sie kündigte an, eine schriftliche Stellungnahme zu erarbeiten, um die Perspektive der Rats-Jurist:innen zu kontern. Die EU-Staaten kündigten ebenfalls an, das Gutachten des EU-Rats zu prüfen. Dann verhandelten sie weiter.

Zehn EU-Staaten haben sich in einer Gruppe gleichgesinnter Staaten zusammengetan und eine gemeinsame Position formuliert, die Irland vortrug. Sie fordern explizit, persönliche Kommunikation anlasslos zu durchsuchen, auch wenn die Nutzer:innen nicht im Verdacht stehen, mit Straftaten in Verbindung zu stehen. Die zehn Staaten wollen nicht nur nach bekannten strafbaren Inhalten suchen, sondern auch nach „unbekanntem Material“ sowie nach „Anwerbung von Kindern/Grooming“ – auch wenn dafür keine angemessene Technologie existiert.

Nach langem Streit fordert die deutsche Bundesregierung, nur unverschlüsselte Kommunikation zu scannen und verschlüsselte Kommunikation auszunehmen. Dieser Forderung widersprechen die zehn Staaten, sie wollen Ende-zu-Ende-verschlüsselte Dienste nicht ausnehmen. Die Staatengruppe fordert zudem, das Gesetz möglichst noch dieses Jahr zu beschließen.

Undifferenzierte Gesamtüberwachung

Andere Staaten sind kritischer. Österreich äußerte „datenschutzrechtliche und grundrechtliche Bedenken“, der Gesetzentwurf beinhalte eine „undifferenzierte Gesamtüberwachung“. Deutschland verwies auf die Stellungnahme der Bundesregierung und forderte „wesentliche Änderungen“ des Gesetzes, will sich aber „weiterhin aktiv und konstruktiv“ einbringen. Polen betonte: „Verschlüsselung darf nicht gebrochen werden“.

Tschechien fordert, auch neues Missbrauchsmaterial zu suchen, dafür dürfe man die Chatkontrolle nicht auf potenzielle Straftäter beschränken. Die Niederlande hingegen haben mit Blick auf die aktuell existierenden Technologien „erhebliche Zweifel“, ob die Suche nach unbekanntem Material und Grooming verhältnismäßig ist. Estland und Malta fordern, „grundlegende Fragen zu klären, um geeignete, rechtlich tragbare Lösungen für dieses Dilemma zu finden“.

Im weiteren Verlauf diskutierten die Staaten die aktuellen Kompromissvorschläge der schwedischen Ratspräsidentschaft. Schweden kündigte an, dass sich der Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten auf seiner heutigen Tagung mit der geplanten Verordnung und insbesondere mit „Umfang und Umgang mit Verschlüsselung“ befassen wird. Der Punkt wurde jedoch wieder von der Tagesordnung gestrichen – die EU-Staaten streiten weiter.

Hier findet man die von netzpolitik.org angesprochenen Schriftstücke (bitte nach unten scrollen)

Hier geht es zur Website von CHAT-Kontrolle stoppen.

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Ein Beitrag von Andre Meister auf netzpolitk.org /
CC BY-NC-SA 4.0
Foto: DGB in Europa, CC hier im Blog vom 29.4.2019

„fairheizen“

13. Mai 2023

Die CDU, lese ich bei netzpolitik.org, verbrennt sich gerade die Finger bei einer Datensammel-Aktion: Per Online-Formular sammelt die Partei aktuell E-Mail-Adressen und Postleitzahlen von Menschen, die etwas gegen die Klimapolitik der Ampelregierung haben („fairheizen“) – und will diese anscheinend an ihre Landesverbände weitergeben. Als unter Verweis auf die Datenschutzbestimmungen Vorwürfe laut werden, wird der Partei die Situation offenbar zu heiß.

Unter dem Motto #fairheizen hat die CDU am Donnerstag eine Kampagne gegen die Energiewendepläne der Ampel-Regierung gestartet. Doch zum Verheizen vorgesehen waren offenbar die Daten der Menschen, die bei der Kampagne mitmachen.

Demnach habe die CDU ein internes Schreiben versandt, in dem steht:

Verbreiten Sie die Webseite auf allen Wegen. Das Besondere: Da wir die PLZ erheben, können wir allen Landesverbänden die Daten von allen Unterstützern aus ihrem jeweiligen Bundesland zur Verfügung stellen.

Das interne Schreiben befindet sich öffentlich einsehbar auf mehreren Facebookseiten, darunter auch auf der eines Lokalpolitikers der CDU, wie netzpolitik.org nachvollziehen konnte. Die CDU hat auf eine Presseanfrage von netzpolitik.org zur Echtheit des Schreibens geantwortet.

Auszug Datenschutzbestimmungen
In einer zwischenzeitlichen Version war die Weitergabe an Landesverbände nun plötzlich aufgetaucht. – Alle Rechte vorbehalten Screenshot aktion.cdu.de

In den ursprünglich auf der Webseite verlinkten Datenschutzbestimmungen war nicht zu lesen, dass die Daten der Kampagne an die Landesverbände der Partei weitergegeben werden können. Das änderte sich, nachdem der Tweet mit dem internen Schreiben viel Aufmerksamkeit generiert hatte.

Datenschutzerklärung mehrfach geändert

Nach Auskunft des Twitter-Accounts, hat die CDU die Datenschutzbestimmungen seit dem Start der Kampagne mehrfach geändert. Eine offenbar frühere Änderung ist hier als Screenshot dokumentiert. Demnach soll ein Hinweis über die Weitergabe der Daten an die Landesverbände hinzugefügt worden sein; auch soll das zuvor genaue Datum geändert worden sein zu „Mai 2023“. In der aktuellen Version der Datenschutzregelungen, Stand gestern Abend, ist die Weitergabe an die Landesverbände hingegen nicht zu sehen. Die CDU hat auf eine kurzfristige Presseanfrage, ob die Datenschutzbestimmungen nach Start der Kampagne verändert wurden, nicht geantwortet.

Um sich an die Bestimmungen zum Datenschutz zu halten, müsste die Partei die erhaltenen Daten so behandeln, wie es in der zu diesem Zeitpunkt gültigen Datenschutzerklärung steht. Rückwirkende Änderungen für bereits erhaltene Daten wären nicht gültig. Derzeit ist unklar, wie die CDU nun mit den unter offenbar unterschiedlichen Datenschutzbestimmungen gesammelten Daten weiter verfährt. Eine kurzfristige Anfrage von netzpolitik.org hierzu hat die CDU nicht beantwortet.

Gerichtet ist die Kampagne #fairheizen offenbar an Gegner:innen der Grünen, die dann von den Landesverbänden zum Beispiel im Wahlkampf angesprochen werden könnten.

Es wäre nicht das erste Mal, dass die CDU Probleme mit dem Datenschutz hat. Schon im Jahr 2021 waren etwa 100.000 Datensätze von Bürger:innen in der CDU-Connect-App offen einsehbar. Die CDU reagierte damals mit einer Anzeige gegen die Sicherheitsforscherin Lilith Wittman, die dies herausgefunden hatte. Später zog die CDU den Strafantrag zurück, die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein.

Update 12. Mai 21:55 Uhr
Nach Erscheinen des Artikels hat die CDU Pressestelle geantwortet. Von einer Datenweitergabe an die Landesverbände will die Parteizentrale jetzt nichts mehr wissen. Im Widerspruch zu dem öffentlich gewordenen internen Schreiben sagt ein Pressesprecher der Bundes-CDU nun, es gehe lediglich darum, dass die Bundesgeschäftsstelle die Daten für regionale Aktionen und Mobilisierungselemente nutzen wolle. Warum die Datenweitergabe dann zwischenzeitlich in die Datenschutzbestimmungen geschrieben wurde, erklärte der Sprecher nicht.

Hier die Antwort im Volltext:

Wir wurden von extern darauf aufmerksam gemacht, dass die Datenschutzbestimmungen zur Nutzung unserer Landingpage unterschiedlich interpretierbar sind. Diese wurden daraufhin angepasst. Geändert wurden die Datenschutzbestimmungen für den Besuch der Website. Dies ist grundsätzlich zulässig. Die jeweilige Zustimmung bezieht sich auf diejenige, die zum betreffenden Zeitpunkt galt.
Eine meldepflichtige Datenpanne liegt nach unserer Einschätzung nicht vor.
Die auf Twitter kursierende Mail bezieht sich darauf, dass die Bundesgeschäftsstelle der CDU die erhobenen Daten für regionale Aktionen und Mobilisierungselemente nutzen kann. Nicht gemeint ist eine tatsächliche Weitergabe der Daten.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen damit weiterhelfen.

Update 13. Mai 0:28 Uhr:
Laut Informationen des RND, hat sich die Berliner Datenschutzbehörde in den Fall eingeschaltet und ein Prüfverfahren gegen die CDU wegen der Sache eingeleitet. Im Artikel heißt es:

Der Vorgang werde von Juristen geprüft, auch die CDU werde man um eine Stellungnahme bitten, teilte ein Sprecher der Behörde dem RND mit. Die Prüfung könne allerdings einige Wochen dauern.

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Ein Beitrag auf/von netzpolitik.org / Markus Reuter
Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

Union verwässert

11. Mai 2023

Nach langem Gezerre hat sich der Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag auf ein Hinweisgeberschutzgesetz geeinigt – und das Gesetz in einigen Punkten abgeschwächt. Schon diese Woche könnte der Schutz von Whistleblower:innen endgültig beschlossen werden und im Sommer in Kraft treten.

Deutschland bekommt nun erstmals ein Gesetz, das Whistleblower:innen schützt. Doch den Unionsparteien ist es auf den letzten Metern gelungen, die Regeln zu verwässern. Vereinfachte Pixabay Lizenz Grafik: Clker-Free-Vector-Images / Montage: netzpolitik.org

Ende der Woche könnte es endlich so weit sein und Deutschland ein Gesetz zum Schutz von Whistleblower:innen erhalten. Bund und Länder einigten sich Dienstag Abend im Vermittlungsausschuss auf ein fertiges Hinweisgeberschutzgesetz. Im Bundestag soll es am Donnerstag, im Bundesrat am Freitag angenommen werden. In Kraft treten könnte es dann schon im Sommer.

Mit dem neuen Gesetz will die Ampelkoalition Menschen schützen, die Rechtsverstöße am Arbeitsplatz oder in der öffentlichen Verwaltung aufdecken wollen. Bislang mussten Hinweisgeber:innen in Kauf nehmen, womöglich Repressalien wie Mobbing, Jobverlust oder Klagen ausgesetzt zu sein. Mit der – reichlich verspäteten – Umsetzung einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 2019 soll damit künftig Schluss sein.

Grundsätzlich geht der Anwendungsbereich über die EU-Mindestvorgaben hinaus und umfasst auch bestimmte Verstöße gegen deutsches Recht, etwa straf- und bußgeldbewehrte Verstöße. Unternehmen und Einrichtungen des öffentlichen Sektors ab 50 Mitarbeitenden müssen interne Meldestellen einrichten, wobei kleinere Unternehmen diese gemeinsam betreiben können. Zudem sieht das Gesetz auch externe Meldestellen vor, unter anderem beim Bundesamt für Justiz (BfJ).

Die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss waren notwendig geworden, weil die Unionsparteien im Bundesrat das Gesetz blockiert hatten. Da half selbst das waghalsige Manöver der Ampel nicht, die zustimmungspflichtigen Passagen, die sich auf die Länder bezogen hatten, aus dem Gesetz herauszulösen. Ein Kompromiss musste her. Und über den sind nicht alle glücklich.

Anonyme Meldewege nicht mehr Pflicht

So entfällt etwa die Pflicht, anonyme Meldekanäle einzurichten, die der Bundestag noch vorgesehen hatte. Hinweisgeber:innen müssen also von Beginn an ihre Identität preisgeben, wollen sie unter den Schutzbereich des Gesetzes fallen. Der grüne Bundestagsabgeordnete Till Steffen hält den Kompromiss bei anonymen Meldestellen für vertretbar, denn ganz entfallen soll dieser Weg nicht.

„Das Bundesamt für Justiz wird die Möglichkeit zu solchen anonymen Dialogen schaffen“, sagt der Abgeordnete zu netzpolitik.org. „Wir gehen davon aus, dass dies die Unternehmen überzeugen wird, diese Möglichkeit auch freiwillig bei sich einzurichten“, so Steffen. Ob sich die Hoffnung erfüllt, muss sich noch weisen, zumal sich hinweisgebende Personen zunächst an die interne Stelle wenden sollen.

Für die Nichtregierungsorganisation Transparency International ist die Verwässerung „unverständlich“, sie sieht Unsicherheiten auf Unternehmen, Behörden und hinweisgebende Personen zukommen. „Obwohl Unternehmenspraxis und Forschung eindeutig zeigen, dass die Gewährleistung von Anonymität zu mehr und besseren Meldungen führt, wird das Gesetz an dieser Stelle abgeschwächt“, schreibt die NGO. Insgesamt werde das Signal gesendet, dass der Schutz der Hinweisgebenden und der Hinweise nicht an erster Stelle stehen.

Abstriche gab es auch bei einem anderen wichtigen Punkt. Der Kompromiss streicht ersatzlos eine Regelung, die das Recht auf immaterielle Schadensersatzansprüche festgeschrieben hatte – also das Recht auf eine angemessene Geldentschädigung, wenn der erlittene Schaden kein Vermögensschaden war, sondern eine Folge etwa von Mobbing oder sonstiger Drangsalierung.

Dabei entsteht eine Regelungslücke, die obendrein der EU-Richtlinie widerspricht. In jedem Fall könne das Streichen dieser Regelung „gravierende Auswirkungen für Whistleblower haben“, kritisiert Simon Gerdemann, der an der Universität Göttingen zum Whistleblowing-Recht forscht. „Damit fällt ein Schmerzensgeldanspruch für sehr viele Repressalien, von denen Whistleblower betroffen sind, weg.“

Pikant daran ist zudem, dass gegen Deutschland bereits jetzt ein EU-Vertragsverletzungsverfahren läuft. Eine sowohl verspätete wie unvollständige Umsetzung der EU-Richtlinie könnte saftige Geldbußen nach sich ziehen.

Halbierte Geldbußen bei Verstößen

Durchsetzen konnten sich die Unionsparteien auch bei den Unternehmensbußen, die bei Verstößen gegen das Gesetz vorgesehen sind. Die Maximalstrafe beläuft sich künftig auf 50.000 Euro – die Hälfte dessen, auf was sich die Koalitionsparteien ursprünglich geeinigt hatten. Sowohl Union als auch Arbeitgeberverbände wollten die Belastungen für die Wirtschaft tunlichst klein halten und freuen sich nun über die Schwächung des Gesetzes.

Ganz zufrieden sind sie indes weiterhin nicht. So bleibt etwa die Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände (VhU) bei ihrer „Fundamentalkritik an der Gesamtregelung“, da sie weiter gehe als die EU-Richtlinie. „Berechtigter Hinweisgeberschutz muss immer in das Verhältnis zu berechtigten Unternehmensinteressen gesetzt werden“, heißt es in einer Pressemitteilung der VhU.

Freilich blieb selbst der ursprüngliche Vorschlag aus dem Bundesjustizministerium hinter dem Koalitionsvertrag zurück. Dieser versprach noch, Hinweise über erhebliche Verstöße gegen Vorschriften oder sonstiges erhebliches Fehlverhalten zu schützen, das nicht klar illegal ist und dessen Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt. Potenzielle Whistleblower:innen werden sich vor einer Meldung wohl juristisch beraten lassen müssen, ob ein von ihnen beobachteter Missstand tatsächlich vom Gesetz erfasst wird.

Nationale Sicherheit geht vor

Ebenso sind die Geheimdienste weiterhin vollständig ausgeklammert. Einem deutschen Edward Snowden bliebe nur, sich unter hohem persönlichen Risiko an die Presse zu wenden und zu hoffen, dass die Identität nicht durchsickert. Und für an sich vom Gesetz geschützte Hinweisgeber:innen ist der Gang an die Medien ohnehin nur in bestimmten Fällen der letzte Schritt, um auf Missstände aufmerksam machen zu können.

Der nun erzielte Kompromiss zeige, dass es bei den Unionsparteien und Teilen der Wirtschaft nach wie vor große Vorbehalte gegen Whistleblower:innen gebe, obwohl diese im Interesse von Gesellschaft und Wirtschaft handeln, so Kosmas Zittel von Whistleblower-Netzwerk. „Erfreulicherweise hat sich wenigstens die Erkenntnis durchgesetzt, dass mit einer Einschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs keinem gedient gewesen wäre.“

Auch Kai Dittman von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) ist erleichtert, dass es das erste Mal überhaupt Schutz für Hinweisgebende gibt. Allerdings wirke das Gesetz sehr unfertig: „Eigentlich müsste sich die Regierung direkt schon an eine Reform setzen, die etwa auch Whistleblowing in Nachrichtendiensten, bei den meisten Verschlusssachen und im Bereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ermöglicht“, so Dittman zu netzpolitik.org. „In der Praxis gibt es gerade im Bereich Diskriminierung und Belästigung viele unternehmensinterne Meldungen.“


Ein Beitrag von  auf netzpolitik org / Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

Bademantel

27. April 2023

Meine Güte, wie bescheuert muss man für eine derartige Mietminderung sein? Und wie bescheuert muss man sein, sich nackt seinen Mietern zu präsentieren??

„Ein Vermieter, der sich auf seinem Grundstück nackt sonnt, ist vielleicht ein Stein des Anstoßes. Allerdings geht die Beeinträchtigung nicht so weit, dass deswegen die Miete gemindert werden darf. Das stellt das Oberlandesgericht Frankfurt am Main in einem aktuellen Urteil klar.

Die Mieter einer Büroetage wollten unter anderem deswegen weniger zahlen, weil sich der Vermieter mitunter nackt im Hof sonnte. Das bloße Nacktsein ist laut dem Gericht aber noch keine „grob ungehörige Handlung“ (§ 118 OWiG). Bloße „ästhetische“ Probleme mit einem anderen Menschen rechtfertigten jedoch schon deshalb nicht die Minderung, weil sich die Büroräume ja weiter nutzen ließen.

Es hat den Mietern auch nicht sonderlich geholfen, dass man den nackten Vermieter ohnehin nur sehen konnte, wenn man sich sehr weit aus dem Fenster lehnte. Angeblich soll der Vermieter auch nackt durchs Treppenhaus gelaufen sein. Er gab jedoch glaubwürdig an, vor und nach dem Sonnenbad immer einen Bademantel zu tragen. Die Miete muss also gezahlt werden (OLG Frankfurt (Main), Aktz. 2 U 43/22).“

(Ein Beitrag im LawBlog von Udo Vetter)

Zu unter anderem noch mehr…

(Quellen: LawBlog, LTO)

Polizeigewalt

22. April 2023

Neues Video: „kein probates Mittel“…

Polizeigewalt in Berlin gegen Klima-Aktivisten der Last Generation

Die Umweltorganisationen ClientEarth, Transport & Environment (T&E), der BUND und das Brüsseler Europa-Büro des WWF und andere haben am Dienstag vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zwei Klagen gegen die Einstufung von Erdgas und Atomkraft durch die Europäische Union in der EU-Taxonomie als „nachhaltige“ Energieformen eingereicht.  Der zweite delegierte Rechtsakt der EU-Taxonomie hatte beiden Energieträgern im vergangenen Sommer ein „grünes“ Etikett verliehen – trotz der in hohem Maße klimaschädlichen Emissionen und der Atommüll- und Abhängigkeitsproblematik. Eine Gruppe der NGO konzentriert sich dabei in ihrer Klage auf Erdgas, die Umweltorganisation Greenpeace greift hingegen sowohl Erdgas als auch Atomkraft an.

Mit Hilfe der sog. Taxonomie soll eigentlich eine klimaneutrale Energiewende in der Europäischen Union finanziert werden. Die EU benennt dabei nachhaltige Investments, die den Klimawandel bekämpfen. Dieser Katalog an klima- und umweltfreundlichen Projekten soll ein neuer „grüner“ Standard an den Finanzmärkten werden. Durch die Aufnahme von Gas und Atom in diesen EU-Katalog kann seit Januar nun noch mehr Geld mit klimaschädlichen Technologien verbrannt werden und das mit dem  Etikett „nachhaltig“. Diese Einstufung beschädigt die Glaubwürdigkeit des Labels Nachhaltigkeit wie der EU massiv. Denn echten Klimaschutz gibt es bekanntlich nur mit einem Ausbau der erneuerbaren Energien. Um diesen voranzutreiben, braucht es daür dringend mehr Investitionen, statt weiter Geld in vermeintliche Brückentechnologien zu stecken.

Dazu erläuterte Jochen Krimphoff, sog. „Sustainable-Finance“-Experte beim WWF Deutschland: „Wir begrüßen die Klage gegen die EU-Kommission. Die Klage ht das Ziel, Greenwashing zu verhindern und die Glaubwürdigkeit der gesamten EU-Taxonomie zu retten. Die Einschätzung der wissenschaftlichen Beratungsplattform der EU-Kommission dazu war eindeutig: Fossiles Erdgas ist nicht nachhaltig, die Emissionen wirken sich negativ auf Klima und Natur aus. Die EU-Kommission hat ihre eigenen Expertinnen und Experten ignoriert. Wenn die EU-Taxonomie zielgerichtet Kapital in nachhaltige Aktivitäten steuern soll, dann muss sie klar und eindeutig sein. Die Finanzmärkte akzeptieren keinen Rahmen, der von der EU-Kommission hin- und hergebogen wird, wie es gerade passt. Investitionen in fälschlicherweise als nachhaltig eingestuftes Erdgas führt in die fossile Sackgasse und bremst eine ernst gemeinte ökologische Transformation aus.“

Olaf Bandt (BUND-Vorsitzender) hatte schon im vergangenen Sommer kommentiert: „Die EU-Taxonomie muss globale Nachhaltigkeitsstandards setzen. Dies steht nun auf der Kippe, nachdem selbst Banken und Investoren das dreiste Greenwashing von Atomkraft und Erdgas ablehnen. Die EU-Abgeordneten sollten mit ihrem Mandat die Weichen für einen klimagerechten Umbau des europäischen Energiesystems stellen. Das geht nur mit einer Taxonomie, die erneuerbare Energien fördert und keine fossil-atomaren Dinosaurier. Atom und Gas helfen nicht beim Klimaschutz und befördern weiterhin Abhängigkeiten von Energieimporten, unter anderem aus Russland. Die Menschen in der EU werden diese Abstimmung genau beobachten, denn hier geht es um nicht weniger als die Zukunftsfähigkeit Europas.“

Nina Treu, Geschäftsführerin von Greenpeace Deutschland, sagte:  Die EU-Kommission darf nicht das Problem als Lösung verkleiden. Atom und Gas können nicht nachhaltig sein. Deshalb zieht Greenpeace vor Gericht. Grünes Geld darf nicht für Industrien missbraucht werden, die uns erst in die Natur- und Klimakrise geführt haben. Es muss in erneuerbare Energien und den zukunftsfähigen Umbau hin zu einer sozial-ökologischen Wirtschaft fließen.

Greenpeace kritisierte, die Aufnahme von Gas und Atomkraft in die Taxonomie eröffne fossilen Gas- sowie Atomkraftwerken den Zugang zu Geldern, die sonst in erneuerbare Energien fließen würden. Die Organisation verweist auf das Beispiel des französischen Stromkonzerns Électricité de France (EDF).

Dieser habe kurz nach der Aufnahme von Atomkraft in der EU-Taxonomie im Juli 2022 bekannt gegeben, durch die Ausgabe von Taxonomie-konformen Anleihen die Instandhaltung seiner Atomreaktoren finanzieren zu wollenEDF hat seit Längerem große Probleme mit der Verfügbarkeit seiner im Schnitt mehr als 30 Jahre alten AKW, da vermehrt Wartungsarbeiten und Reparaturen nötig sind. Außerdem führt der Wassermangel im Sommer zu erheblichen Probleme mit der Kühlung der französischen AKW. Zu einem Großteil mussten sie daher in der Vergangenheit abgeschaltet werden.

 

Weitere Informationen
– Hintergrundinformationen finden sich in der gemeinsamen Stellungnahme von ClientEarth, Transport & Environment (T&E), des BUND und des Brüsseler Europa-Büros des WWF (engl.).
– Die EU-Taxonomie ist ein Klassifizierungssystem zur Festlegung, welche Investitionen als nachhaltig einzustufen sind (siehe WWF short paper – Ein Meilenstein für mehr Nachhaltigkeitstransparenz: Was eine konsistente EU-Taxonomie erreichen kann).


Texte: PM des WWF, BUND, Greenpeace Deutschland,