Altes Landhaus

16. April 2024

Ein Mecker-Gast, berichtet die Verdener Kreiszeitung, kassiert gesalzene Reaktion vom kritisierten Wirt. Das Ganze spielt -man ahnt es- in Lingen (Ems).
Hier bei uns hatte ein Gast das beliebte Restaurant Altes Landhaus an der Lindenstraße mit einer sehr ausgiebigen Beschwerde überzoge (Bild unten) – doch auch der gesalzene Konter des Wirts hat es in sich.

Einfach ignorieren? Oder antworten? Gastwirt Simon Kuhl hat sich für eine andere Lösung entschieden. Der Wirt vom Hotel und Restaurant Altes Landhaus in Lingen (Niedersachsen) hat eine Zuschrift in seiner Mailbox entdeckt, die ihm die Sprache verschlug. Als er die Worte wiedergefunden hat, machte er die Beschwerde kurzerhand öffentlich bei Facebook, mit einem langen Statement. Dieses beginnt mit folgenden Worten: „Manchmal wissen wir nicht, ob wir vor Lachen heulen sollen oder vor Heulen lachen. Hier haben wir eine granatenmäßige E-Mail bekommen, die wir so auch noch nicht erlebt haben.“ Offensichtlich hatten dem kritischen Gast der Besuch – und das Essen – in dem Restaurant rein gar nicht geschmeckt. Und dem machte er schriftlich Luft. Der Besucher beanstandete ziemlich kleinteilig gleich drei Gerichte. Beispiel: „Nach Karte bestellt: ‚Kikok-Hähnchenbrustfilet + Marktgemüse + Risotto in …‘: – Serviert wurde nicht ‚Hähnchenbrustfilet‘, sondern Kikok-Hähnchenschenkel. Service darauf angesprochen. Reaktion: Null.“

Wirt Simon Kuhl nahm ebenso kleinteilig Stellung, etwa: „Angeboten und serviert haben wir Kikok-Maishähnchenbrust Supreme, Curry-Limettensoße, Frisches Marktgemüse und Risotto. Das Supreme steht für den Schnitt, den wir beim Auslösen des Maishähnchens machen. Wir lassen einen Teil des Flügelknochens an dem Brustfilet mit Haut dran. Kann man mögen oder beim Service bei Bestellung mal nachfragen, was damit so gemeint ist.“

Nun ist die Unzufriedenheit des Gastes eine Tatsache,. Und es mag sein, dass die Küche im Alten Landhaus an der Lindenstraße zu Ostern einen eher schlechten Tag erwischt hat. In den Google-Bewertungen sind nicht alle zufrieden, doch die Durchschnittsbewertung von 4,7 von 5 Sternen zeigt, dass es eine von der überwältigenden Mehrheit als schmackhaft wahrgenommene Adresse im emsländischen Niedersachsen darstellt. Nicht aber für besagten Mecker-Gast. Was ihm außerdem nicht geschmeckt hat, lässt sich im Detail im Facebook-Beitrag (Foto) nachlesen. Bis hin zum Risotto, bei dem etwas am Reis nicht gepasst hat und dem Vanille-Eis.

Simon Kuhl zitiert auch „unsere absoluten Lieblingssätze im Abschluss der E-Mail“. Die beginnen mit: „Sie dürfen vermuten, dass ich zwischen angemessenem Preis-Leistungs-Verhältnis (auf dem Teller) und ‚Nepp‘ zu unterscheiden weiß.“ Der Meckerer merkt an, dass ihm das Angebot eines Gastro-Großhandels bekannt sei (wohl ein versteckter Vorwurf, dass nicht alles selbst gekocht worden sein könnte), droht damit, seine Erfahrungen mit dem Gastro-Verband und den bekannten Online-Bewertungsportalen zu teilen.

Auch hierzu gibt es eine ausführliche Reaktion des Koches. Er erklärt, dass seine Produkte nicht von besagtem Großhandel kommen, obwohl dieser „ein echt tolles Sortiment von tollen, frischen Produkten bis hin zu raffinierten Convinience-Produkten“ habe, „die wahrscheinlich in vielen Betrieben Anwendung finden, in denen Sie schon zufrieden waren.“ Weiter meint er: „Teilen Sie Ihre Erfahrungen gerne dem Dehoga und schreiben Sie eine entsprechende Bewertung im World Wide Web, davon werde ich Sie bestimmt nicht abhalten.“

Der öffentliche Appell des lesbar fassungslosen Gastronoms: „Um einen Gefallen würde ich Sie noch bitten: Wenn Sie demnächst in ein Gasthaus, Restaurant, Café, etc. gehen, erkennen Sie doch bitte die Leistung an, die die Kollegen in den Abendstunden, an Feiertagen, an Sonntagen oder zu Zeiten, an denen man gerne selber mit feiern würde, erbringen. Und wenn etwas nicht passt, direkt vor Ort ansprechen, meinetwegen auch nach dem Chef fragen, und die zweite Chance geben. Wenn das dann nicht klappt, kann man ja immer noch die obligatorische 1-Sterne-Google Bewertung ohne Kommentar abgeben.“ Wirt Simon Klus schließt mit den Worten „Ich geh jetzt Reis kochen üben, Ihnen frische Grüße und ein schönes Wochenende!“

Für seine offene Reaktion bekommt er viele Dutzend „Gefällt mir“-Angaben und aufmunternde Kommentare: „Noch etwas Popcorn übrig? Feinste Unterhaltung. Super geschrieben, dem ist nichts hinzuzufügen!“ Eine Nutzerin meint: „Was gibt es doch für furchtbare Menschen.“ Und eine unkt: „Meist sind doch die unzufrieden, die selbst noch nicht einmal ein Spiegelei zustande bekommen!“ Mit der aufwändigen Reaktion hat der Lingener Gastronom offenbar ins Schwarze getroffen.


Quellen: Kreiszeitung Verden, Facebook
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Lingener Synagoge

11. September 2023

Es ist ein Foto der Lingener Synagoge aufgefunden worden. Das ist bemerkenswert. Die Aufnahme, die die Lingener Synagoge von der Seite zeigt, hat jetzt Walter Gandre in der Facebook-Gruppe „Du weißt, Du kommst aus Lingen/Ems, wenn…“ veröffentlicht. Interessanterweise stammt sie aus dem Lingener Stadtarchiv, das bislang immer erklärte, kein Foto der Synagoge zu haben. Die entdeckte Aufnahme zeigt die Synagoge seitlich am rechten Bildrand.

Die jüdische Gemeinde hatte die Lingener Synagoge im damaligen Gertrudenweg aus roten Ziegelsteinen errichtet. Zur Straßenseite hin waren in hebräischer Schrift die Worte aus dem Buch Exodus (2. Buch Mose 25,8) eingelassen: „Und sie sollen mir ein Heiligtum machen, und ich will in ihrer Mitte wohnen.“ Der durch ein schmiedeeisernes Tor erreichbare Eingang lag im hinteren Teil des Gebäudes. Im Hauptraum der Synagoge befand sich der Schrein mit den Torarollen, das ewige Licht, außerdem ein kleines Pult für den Kantor oder Vorbeter und ein größeres Pult für die Lesung der Tora. Am 19. September 1878 wurde die Synagoge feierlich eingeweiht. 1923 wurde in der Synagoge eine Gedenktafel enthüllt, die an die vier im Ersten Weltkrieg gefallenen Gemeindemitglieder erinnerte.

Lingener SA-Männern zündeten die Lingener Synagoge in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 an. Löschen durfte die ohnehin sehr spät erscheinende Lingener Feuerwehr den Brand nicht, sondern nur ein Übergreifen des Feuers auf die Nachbargebäude verhindern. Die Synagoge wurde so vollständig zerstört. Die dahinter liegende kleine Schule überstand den Brand, weil sehr nah neben ihr Häuser standen. Sie ist heute Gedenkort.

Walter Gandre: „Um den damaligen Standort der Synagoge in der heutigen Synagogenstraße zu zeigen, habe ich [in der Facebook-Gruppe] noch zusätzlich ein aktuelles Bild dabei. Das vordere Haus darauf wurde nach 1920 gebaut, dem geschätzten Aufnahmedatum des alten Bildes.“
Bisher kannte ich dieses Bild der Synagoge nicht sondern nur den Ausschnitt einer Postkarten-Aufnahme, die vor 90 Jahren vom Wasserturm aufgenommen wurde und den ganzen Bereich zeigt. Eine Vergrößerung hängt im Gedenkort Jüdische Schule und zeigt die Synagoge nur sehr unscharf (Foto unten). Umso schöner ist die jetzt gefundene Seitenansicht. Danke dafür! Sie stärkt meine Hoffnung, doch irgendwann noch einmal ein vollständiges Foto der Synagoge sehen zu können.
Begleitet wurden, berichtete  das Stadtarchiv bereits in seiner Archivalie des Monats November 2014, die Bauarbeiten im 19. Jahrhundert  an der Synagoge von antisemitischen Berichten und gehässigen Kommentaren des „Lingener Volksbote“. Über Monate hinweg machte so das zentrumsnahe lokale Blatt Stimmung gegen die Lingener Jüdinnen und Juden. Einen Monat vor der Einweihung wurde der Redakteur der Zeitung dann, nachdem er die Lingener Juden fälschlich des Diebstahls bezichtigt hatte, zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt. Dennoch setzten der Volksbote und später auch der im selben Verlag van Acken erscheinende „Westfälische Bauernkalender“ die polemischen, antisemitischen Angriffe fort. 

Quellen – Fotos und Text: Stadtarchiv, FB/Walter Gandre, Verein Juden Christian im Altkreis Lingen

 

Chronologische Feeds, verbesserte Transparenz in der Werbung und mehr Schutz vor Manipulation: Seit Freitag müssen sich große Online-Dienste wie Facebook oder Google an neue EU-Regeln halten. Netzpolitik.org gibt in seinem Beitrag einen Überblick, welche Änderungen Nutzer:innen erwarten können – und was noch ansteht.

Blauer Hintergrund, davor dreidimensionale Würfel mit den Logos von Facebook, Youtube, Tiktok, Instagram, Twitter und LinkedIn
Der Digital Services Act der EU bringt neue Regeln für Online-Plattformen. Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Mariia Shalabaieva

Das Digitale-Dienste-Gesetz der Europäischen Union nimmt seinen ersten großen Schritt: Seit Freitag, gelten in Europa eine ganze Reihe von neuen Verpflichtungen. Durch die EU-Verordnung soll die Nutzung von Online-Diensten generell transparenter und sicherer werden.

Zunächst gelten die Regeln für die besonders großen Plattformen mit mehr als 45 Millionen Nutzer:innen im Monat. Schon vor einiger Zeit hatte die EU-Kommission 19 Firmen aufgezählt, die ihrer Ansicht nach darunterfallen. Dazu gehören diverse Google-Dienste wie etwa YouTube, Maps und der Play-Store. Auch für einige Social-Media-Plattformen wie TikTok, Pinterest, LinkedIn, Snapchat und Metas Instagram sowie Facebook gelten die strengen Regeln. Außerdem für Shopping-Riesen wie Amazon, Alibaba AliExpress sowie Zalando und, als einzige nicht-kommerzielle Plattform: Die Wikipedia.

Wir haben die wichtigsten Änderungen für Euch zusammengefasst.

Mehr Autonomie und Sicherheit für Nutzer:innen

  • Wer einen Dienst wie Instagram oder TikTok nutzt, hat künftig ein Recht zu erfahren, warum bestimmte Inhalte im Feed landen. Wer keine Empfehlungen auf Basis seiner persönlichen Daten bekommen möchte, darf auf einem Opt-Out bestehen. Diese Woche hat Meta als Reaktion auf das Digitale-Dienste-Gesetz angekündigt, Nutzer:innen künftig einen chronologisch geordneten Feed anzubieten. TikTok setzt die Vorgabe bereits um.
  • Online-Handelsplätze müssen sicherstellen, dass Käufer:innen leicht herausfinden können, mit wem sie ins Geschäft kommen. Anbieter:innen auf Plattformen müssen demnach Kontaktdaten und ihre Einträge in Handelsregister sowie weitere relevante Informationen offenlegen.
  • Dark Patterns, die Nutzer:innen bewusst durch Designentscheidungen in die Irre führen, sind künftig ausdrücklich verboten.

Ein Recht auf Moderation

  • Große Plattformen wie Facebook moderieren Inhalte bislang weitgehend nach eigenem Gutdünken. Dem sollen Nutzer:innen künftig nicht mehr ganz so ohnmächtig gegenüberstehen. So wird ein wirksames Beschwerdeverfahren in der EU zur gesetzlichen Pflicht. Wenn etwa Inhalte gelöscht werden, müssen Nutzer:innen klar darüber informiert werden, gegen welche Regel der Plattform der Inhalt verstößt. Sie erhalten außerdem ein Widerspruchsrecht. Plattformen müssen zudem binnen einer bestimmten Zeit reagieren. Meta hat versprochen, Nutzer:innen künftig genauer über seine Moderationsentscheidungen zu informieren.
  • Plattformen müssen außerdem gegen systemische Risiken vorgehen. Gemeint ist damit, dass die Anbieter ausreichende Maßnahmen treffen müssen, um etwa gegen die massenhafte Verbreitung von Kindesmissbrauchsdarstellungen, Hetze gegen Minderheiten oder Desinformation vorzugehen. Darüber müssen die Plattformen jährliche Berichte vorlegen. Die EU-Kommission kann deren Wirksamkeit unabhängig überprüfen lassen und im Zweifelsfall Korrekturen anordnen. Das könnte etwa für X (vormals Twitter) zum Problem werden, das unter Elon Musk viele Mitarbeiter:innen gekündigt hat, die an der Inhalte-Moderation und der Sicherheit der Plattform gearbeitet haben. Verweigert ein Konzern grundsätzlich, geeignete Maßnahmen zum Schutz seiner Nutzer:innen zu treffen, drohen Strafen in Milliardenhöhe.

Mehr Schutz vor Manipulation

  • Werbung darf künftig nicht mehr auf Basis sensibler persönlicher Daten ausgespielt werden. Dazu zählen etwa die politische Überzeugung, sexuelle Orientierung oder ethnische Zugehörigkeit. Plattformen müssen jegliche Werbung als solche kennzeichnen und klare Informationen bieten, wer dafür bezahlt hat. Google hat deshalb die Richtlinien für seine Werbeplattform geändert. In Europa sei die „Auswahl der Zielgruppen auf Grundlage bestimmter Kategorien wie ethnische Herkunft, Religion, Gesundheitszustand, sexuelle Vorlieben, finanzieller Status und politische Orientierung […] nicht zulässig“.
  • Das zielgerichtete Ausspielen von Werbung an Kinder ist künftig nicht mehr erlaubt. Plattformen müssen Schritte unternehmen, um die Risiken für die Sicherheit, den Schutz der Privatsphäre und die psychische Gesundheit von Minderjährigen zu senken.
  • Plattformen müssen künftig Archive aller bei ihnen ausgespielten Werbeinhalte zur Verfügung stellen. Auch muss für Entscheidungen über das Löschen und Sperren von Inhalten Transparenz hergestellt werden, entweder durch ein Register aller Entscheidungen oder regelmäßige Berichte. Google hat auf seiner Werbeplattform bereits ein Register gelöschter Anzeigen ausgestellt – ähnliche Archive könnten künftig für andere Löschentscheidungen zum Standard werden.

Konzerne kommen nur langsam in die Gänge

Mit der Umsetzung des neuen EU-Gesetzes lassen sich einige der Plattformen offenbar Zeit. Am Tag bevor die neuen Regeln wirksam wurden, sagte ein hoher EU-Beamter in einem Presse-Briefing, dass Elon Musks Twitter/X beispielsweise zwar volle Einhaltung der neuen Regeln zugesagt, aber „noch einen weiten Weg zu gehen“ habe. Die EU werde sehr genau auf das Verhalten der Plattformen achten.

Zwei der von den Regeln für sehr große Plattformen betroffenen Firmen, Amazon und Zalando, haben außerdem gegen ihre Einstufung als „sehr große Plattform“ Klage eingereicht. Werden sie von der Liste gestrichen, gelten für sie lediglich die generellen Auflagen für Online-Dienste des neuen EU-Gesetzes. Urteile stehen noch aus. Die EU-Kommission arbeitet unterdessen an einer Liste von weiteren Plattformen, die als „sehr große Plattformen“ den besonders strengen Auflagen unterliegen.

Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet zudem von Zweifeln mehrerer Nichtregierungsorganisationen, ob die großen Social-Media-Plattformen den neuen Regeln bereits nachkommen. So hatte etwa die NGO Global Witness herausgefunden, dass Facebook, TikTok und YouTube noch in diesem Jahr Werbeanzeigen zugelassen hätten, die zu Hass gegen die LGBTQ+ Community aufrufen. Einen Tag vor Wirksamwerden der neuen Regeln berichtet nun die NGO Ekō, dass sie mehrere Anzeigen auf Facebook habe schalten können, die offenkundig gegen die Plattformregeln verstoßen.

Aufsicht: Kompetenzgerangel in Deutschland

Für die Aufsicht der sehr großen Anbieter ist grundsätzlich die EU-Kommission zuständig. Dennoch schreibt das EU-Gesetz eine enge Zusammenarbeit mit den nationalen Aufsichtsbehörden fest, die vor allem für Nutzer:innen künftig die erste Anlaufstelle bei Beschwerden sein sollen.

Noch ist nicht restlos geklärt, wer in Deutschland für die Überwachung und Durchsetzung der neuen Regeln zuständig sein wird. Dazu haben die EU-Länder noch bis nächstes Jahr Zeit. Der Digital Services Act sieht die Einrichtung einer unabhängigen Institution vor, den sogenannten Koordinator für digitale Dienste. Welche Form dies konkret annimmt, darum ringt die Bundesregierung seit Monaten.

Klar ist inzwischen, dass keine neue Behörde geschaffen werden soll, sondern die Bundesnetzagentur entsprechende Kompetenzen erhalten soll. Allerdings sollen weitere Behörden zuarbeiten, etwa der Bundesdatenschutzbeauftragte und die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz. Hartnäckig im Gespräch bleiben auch die Landesmedienanstalten oder das Bundesamt für Justiz, die Ansprüche auf Teilbereiche der Aufsicht anmelden. Eine zersplitterte Aufsicht könnte jedoch eine schlagkräftige Durchsetzung der Regeln erschweren.

Erst in dieser Woche ruft deshalb der Bundesverband der Verbraucherzentralen die Bundesregierung auf, endlich „Schluss mit dem Zuständigkeitsgerangel“ zu machen. In einer Stellungnahme kritisieren die Verbraucherschützer:innen, „dass sich der politische Diskurs aktuell häufig um Befindlichkeiten von Behörden sowie deren Angst vor Bedeutungsverlust dreht“.

Wie die Regeln für die Aufsicht werden weitere Teile des Digitale-Dienste-Gesetzes erst nächstes Jahr wirksam. Ab 17. Februar 2024 gilt etwa die Verpflichtung zur Einrichtung außergerichtlicher Streitbeilegungsmechanismen. Diese sollen überall dort greifen, wo Nutzer:innen mit Ergebnissen ihres Widerspruchs gegen eine Moderationsentscheidung einer Plattform unzufrieden sind, aber einen Gang vor Gericht scheuen. Ab nächstem Jahr soll es möglich sein, in solchen Fällen eine unabhängige Stelle anzurufen, die schnell und unbürokratisch entscheidet.

Die Forschung soll überdies durch das Digitale-Dienste-Gesetz einen Zugang zum Datenschatz der Plattformen erhalten. Dadurch sollen nach Wunsch der EU unabhängige Forscher:innen die Möglichkeit erhalten, die Arbeit der Plattformen etwa bei der Inhalte-Moderation zu beurteilen. Über die Details wird derzeit allerdings noch verhandelt – ein ausführender Rechtsakt wird wohl 2024 fertig sein.


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Punkt.

6. Juli 2022

Die Leser dieses kleinen Blogs wissen, dass am heutigen Mittwoch der Lingener Stadtrat darüber entscheidet, ob die Straße zwischen Burgstraße und Jakob-Wolff-Platz weiterhin den Namen eines Rennfahrers trägt, der Offizier der SS war. Die Debatte darüber läuft seit rund 10 Jahren, und ich bin guten Mutes, dass sie jetzt mit einer Umbenennung zu Ende geht. Das Ergebnis wird vielleicht nicht optimal sein, aber ich hoffe auf ein befriedigendes Resultat. Gut wäre es, wenn unsere Stadt die Straße nach einem NS-Opfer und nicht weiter nach einem NS-Täter benennen würde. Nun, wir werden sehen.

Die Debatte war im Großen und Ganzen fair. Nur gestern meinte der Lingener SPD-Vorsitzende Primke, mich auf seiner Facebookseite miesepetrig angreifen zu müssen, indem er gemeinsam mit seinen SPD-Getreuen Schomakers (Wietmarschen) und Kasimir (Meppen) meinen Großvater kritisierte, aber nur mich meinte. Vorausgegangen war nämlich dieser Blogbeitrag von mir.

Nun, es trifft zu, dass mein Großvater 1961 ehrenamtlicher Bürgermeister der Stadt war und Willy Brandt nicht empfing, der im Bundestagswahlkampf in Lingen zu Tausenden Besuchern sprach. Er empfing ihn nicht, weil er ihn nach einem Beschluss des Verwaltungsausschusses nicht empfangen durfte. er fand das nicht gut und hat deshalb Lingen verlassen, als der spätere Bundeskanzler kam; ich meine, er fuhr zur Bezirksregierung in Osnabrück – aber da bin ich mir nicht sicher. Den im Verwaltungsausschuss untersagten Empfang und das Verbot kann man kritisieren.

Die Leserschaft weiß allerdings, dass ich auf meinen Großvater nichts kommen lasse und stolz auf ihn bin. Er war Bäckermeister und versorgte heimlich die Familie Hanauer in der benachbarten Schlachterstraße mit Brot, als das niemand durfte. Hanauer waren Juden, die nichts zu essen hatten. Als die lokale Hitlerjugend von den nächtlichen Versorgungsgängen erfuhr, haben sie ihn abgepasst und fürchterlich verprügelt. Er hat trotzdem weiter Brot zu Hanauers gebracht.

Carsten Primkes Kritik an meinem Opa nenne ich daher schäbig. Führende Leute der lokalen SPD wollen die Umbenennung der Weltrekordler-mit-SS-Offiziersrang-Straße in Bahnhofstraße, aber nicht das ehrende Gedenken an den Lingener Juden Fredy Markreich. Wenn er meine Kritik an der so agierenden SPD-Ratsfraktion nicht gut findet, soll Carsten Primke mich offen angreifen aber nicht den Mann, der 17 Jahre ehrenamtlicher Bürgermeister unserer Stadt und deren Ehrenbürger war. Punkt.

Gekaufte Klicks

30. April 2022

Soziale Medien dulden noch immer massenhaft gekaufte Klicks. Ein NATO-Forschungszentrum hat ermittelt, wie sich Facebook, Instagram, TikTok und Co. im Kampf gegen solche Manipulation schlagen. Wir analysieren die Ergebnisse. 

Ein paar Euroscheine, sprudelnde Likes
Für eine Handvoll Euro sprudeln manipulierte Likes (Symbolbild) – Geldscheine und Likes: Pixabay; Montage: netzpolitik.org

Es ist immer noch sehr einfach, manipulierte Interaktionen auf sozialen Medien zu kaufen. Dieses Fazit zieht ein NATO-nahes Forschungszentrum aus einer am Mittwoch veröffentlichen Analyse. Untersucht wurden Facebook, Instagram, Twitter, YouTube, TikTok und die russischen Facebook-Alternative VKontakte.

Nach wie vor verticken Like-Händler:innen im Internet für wenige Euro Kommentare, Follower:innen, Likes und Views. Interessierte können sich damit auf allen gängigen Social-Media-Plattformen den Anschein von Popularität kaufen. Dahinter steckt ein Wettrüsten zwischen Plattformen und Like-Händler:innen. Während Plattformen solche Manipulation offiziell verbieten, nutzen Like-Händler:innen für ihr Geschäft Schlupflöcher.

Einen Einblick in dieses Wettrüsten liefert nun das NATO Stratcom COE. Die Abkürzung steht für Strategic Communications Centre of Excellence. Das Zentrum ist nach eigenen Angaben nicht Teil der NATO-Kommandostruktur und keiner anderen NATO-Einheit unterstellt.

Tausende Likes gekauft

Grundlage der Analyse war eine Stichprobe. Die Forschenden haben für insgesamt 279 Euro manipulierte Interaktionen in sozialen Medien gekauft. Dafür haben sie gerundet 1.400 Kommentare bekommen, 14.0000 Likes, 93.000 Views und 5.800 Shares. Dann haben sie geschaut, woher diese gekauften Interaktionen stammen. So konnten sie rund 9.800 verdächtige Accounts ausmachen. Die Forschenden haben unter anderem beobachtet, ob und wie schnell die Plattformen die gekauften Interaktionen wieder entfernen.

Ergebnis: Wer in diesem Umfang Interaktionen kauft, darf sie wohl eine Weile behalten. Die überwiegende Mehrheit von 92 Prozent der gekauften Interaktionen sei nach vier Wochen noch da gewesen, wie die Forschenden berichten. Praktisch bedeute das, wer etwa 1.000 Likes für eine:n Politiker:in oder ein Restaurant kaufe, habe nach einem Monat noch 920 Likes übrig.

Eine Stichprobe von jeweils 50 bis 150 Accounts haben die Forschenden aktiv bei den Plattformen gemeldet. Damit wollten sie überprüfen, ob die Accounts zumindest nach einem ausdrücklichen Hinweis auf Manipulation gelöscht werden. In den ersten zehn Tagen seien je nach Plattform aber nur bis zu zehn Prozent der gemeldeten Accounts gelöscht worden – also sehr wenig.

NATO-nahe Forschende befürchten politische Einflussnahme

Eine ähnliche Analyse hatte das Forschungszentrum bereits für das Jahr 2020 gemacht. Die neuen Beobachtungen würden sich nicht dramatisch von den alten unterscheiden, heißt es. Aber Manipulation auf sozialen Medien sei im Durchschnitt schneller und günstiger geworden.

Das Fazit der Forschenden: Bei den Social-Media-Unternehmen gebe es eine „anhaltende Unfähigkeit, Manipulationen zu bekämpfen“. Sie sehen darin eine mögliche, politische Gefahr. Diese Gefahr bleibt aber eher theoretisch, wie aus der Analyse hervorgeht. Die gekauften Interaktionen würden „in erster Linie zu kommerziellen Zwecken genutzt“. Auf allen Plattformen beobachtet habe man, dass damit die Sichtbarkeit von Influencer:innen und Promis erhöht werde, von Online-Spielen, Krypto- und Finanzprodukten.

Politisch eher brisant waren den Forschenden zufolge Desinformation über die Corona-Pandemie und Inhalte zur Parlamentswahl in Russland. Bei diesen Inhalten habe man Aktivitäten der verdächtigen Accounts beobachten können. Verdächtige Accounts hätten auch beispielsweise mit den Online-Auftritten eines saudi-arabischen Regierungsbeamten oder eines türkischen Bürgermeisters interagiert.

Solche Beobachtungen sind mit Vorsicht zu genießen: Von außen lässt sich nicht feststellen, ob eine Person solche Interaktionen für sich selbst gekauft hat. Außerdem können Anbieter von Fake-Accounts zunächst ohne Gegenleistung einigen bekannten Persönlichkeiten folgen, damit ihre Fake-Accounts weniger verdächtig aussehen. Dennoch: Soziale Medien seien ein „stark umkämpftes Informationsumfeld“, schreiben die Forschenden. Die NATO müsse ihre Strategien und Fähigkeiten verfeinern.

Analyse blendet wichtigen Knackpunkt aus

Einen Skandal kann die Analyse also nicht aufdecken. Bereits im Jahr 2019 hat der Autor dieses Textes für das VICE-Magazin untersucht, wie Like-Händler:innen weltweit soziale Medien manipulieren und ihre Spuren verwischen. Die Recherche zeichnete nach, wie ein globales Netzwerk durch manipulierte Interaktionen Geld verdient. Bevor Schwärme aus Accounts aber automatisch Likes verteilen können, braucht es viel Handarbeit. Eine Gefahr für die politische Meinungsbildung ließ sich im Zuge der Recherchen allenfalls theoretisch beschreiben.

Die Forschenden des Stratcom COE bezeichnen ihr eigenes Experiment jedenfalls als „bahnbrechend“. Der Titel ihrer Analyse verspricht viel. Demnach habe man untersucht, wie Social-Media-Unternehmen „Manipulation auf Plattformen bekämpfen“. Allerdings müsste das NATO-nahe Forschungszentrum wohl rhetorisch etwas abrüsten, um die eigenen Ergebnisse korrekt einzuordnen. Die Stichprobe hat zunächst nur ermittelt, wie Plattformen auf gekaufte Interaktionen reagieren. Das ist nur eine von vielen Zutaten, die Manipulationskampagnen im Netz ausmachen.

Nicht untersucht wurde etwa der Aufbau realer Influencer:innen, der Einsatz von Werbeanzeigen, vermeintlichen Nachrichtenportalen und Memes sowie hyperaktive Communitys, die sich gezielt zu Hass- und Hashtagskampagnen verabreden. Allein auf Grundlage dieser Stichproben lässt sich kaum ableiten, was Plattformen tatsächlich möglicher Einflussnahme entgegensetzen – und was nicht. Die Forschenden schlussfolgern zwar: „Die Anbieter:innen von Manipulationsdiensten gewinnen nach wie vor das digitale Wettrüsten.“ Dabei wird aber ein wichtiger Knackpunkt ausgeblendet: Wie effektiv können gekaufte Interaktionen überhaupt problematische Inhalte nach oben in die Trends und Newsfeeds katapultieren?

Manipulation in kleinen Dosen

Das öffentliche Meinungsbild wird nicht verzerrt, solange sich automatisierte Accounts nur gegenseitig liken und teilen – ohne, dass Menschen das sehen. Statt zu löschen können Social-Media-Plattformen auf solche Manipulation auch mit algorithmischer Abstrafung reagieren. Das ginge beispielsweise, indem die Reichweite verdächtiger Posts eingeschränkt wird. Diesen Aspekt hat das Forschungszentrum nicht untersucht.

Im Jahr 2019 konnten die VICE-Recherchen die andere Seite des Wettrüstens zumindest etwas beleuchten. In teils geschlossenen Foren arbeiten sich Like-Händler:innen kontinuierlich daran ab, unter dem Radar von Plattformen wie Instagram zu bleiben. Sie passen das Verhalten ihrer teils automatisiert gesteuerten Accounts immer wieder an. In Online-Shops werben sie damit, dass ihre manipulierten Likes und Follower:innen besonders schwer zu entlarven seien.

Aus den VICE-Recherchen geht hervor: Wer eine große und wirksame Kampagne plant, kann sich kaum auf gekaufte Interaktionen verlassen und muss sie sehr vorsichtig dosieren. Insofern dürfte ihre Bedeutung nicht überschätzt werden. Dazu passt eine Relativierung im Bericht des Forschungszentrums: Demnach hätten Plattformen den Forschenden mitgeteilt, das größere Eingriffe erkannt und bestraft würden; kleinere nicht.

Ranking der Plattformen: Wer löscht am meisten?

Ein spannendes Detail der Analyse ist ein direkter Vergleich der Plattformen. Wer schlägt sich am besten im Kampf gegen gekaufte Interaktionen? Darauf kann die Stichprobe zumindest ein Schlaglicht werfen. Untersucht wurde diese Frage in gleich mehreren Kategorien.

So habe Twitter nach vier Wochen von allen untersuchten Plattformen die meisten gekauften Interaktionen entfernt – übrig waren laut Analyse rund 83 Prozent. An zweiter Stelle kommt TikTok. Die Plattform habe sich im Vergleich zum Vorjahr deutlich verbessert und 85 Prozent der gekauften Interaktionen online gelassen. Es folgen YouTube, Instagram, Facebook und VKontakte.

Weiterhin untersucht wurde etwa, wie teuer die gekauften Interaktionen waren. Instagram sei demnach die am billigsten zu manipulierende Plattform, Twitter die teuerste. Generell habe Twitter mit Blick auf die untersuchten Aspekte die Nase vorn, heißt es in der Analyse. Eine besondere Erwähnung bekam TikTok. Die Plattform habe sich am meisten verbessert, schreiben die Forschenden. Das sei „eine deutliche Erinnerung daran, dass Social-Media-Unternehmen mehr tun können“.

Forschende sehen Regierungen in der Pflicht

Warum gehen die Plattformen nicht härter gegen manipulierte Interaktionen vor? Zumindest einen möglichen Grund nennen die Forschenden in ihrer Analyse: Auch gekaufte Klicks brächten Werbeeinnahmen. Diese Vermutung hatte die gemeinsame Pressestelle von Facebook und Instagram bereits 2019 gegenüber VICE verneint: Betrügerische Aktivitäten seien für alle schlecht, man habe ein großes Interesse, das zu verhindern.

Das Forschungszentrum fordert umfassende Konsequenzen von Politik und Unternehmen. Dienstleister wie PayPal, Visa und Mastercard sollten etwa Zahlungen für Like-Händler:innen einstellen. Regierungen sollten eine unabhängige Aufsicht für Social-Media-Plattformen einrichten. Sie sollten den Druck auf Plattformen erhöhen, Manipulation zu bekämpfen.

Unerwähnt bleibt an dieser Stelle der Analyse, dass das strengere Vorgehen gegen manipulierte Interaktionen auch eine Kehrseite hat. Besonders empfindliche Systeme können zu Overblocking führen. Alltägliche Klicks könnten mit Aktivitäten von Bots verwechselt werden. Es braucht eine Balance, damit auch gewöhnliche Nutzer:innen weiterhin an einer Plattform teilhaben können – ohne ständig CAPTCHAs zu lösen oder gar einen Ausweis vorlegen zu müssen.

Wie viel Spielraum Plattformen im Kampf gegen manipulierte Interaktionen wirklich haben, ließe sich wohl am besten durch gezieltere, unabhängige Forschung ermitteln. Dafür bräuchte es Zugang zu bislang internen Daten. Ein solcher Zugang ist zumindest im neuen Digitale-Dienste-Gesetz geplant, auf das sich die EU vergangene Woche geeinigt hat. Unabhängig davon lobbyieren auch Forschende des Stratcom COE dafür, vermehrt mit Daten der Plattformen forschen zu dürfen.


von  auf netzpolitik.org Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

Meinungsfreiheit

31. Juli 2021

Gestärkt hat der Bundesgerichtshof (BGH) die Meinungsfreiheit in sozialen Netzwerken: Facebook darf zwar strengere Regeln aufstellen als der Staat, muss aber in Zukunft Moderationsentscheidungen begründen und den Nutzer:innen das Recht geben, sich zum Fall zu äußern.

Symbolbild CC-BY-SA 4.0 netzpolitik.org

Der BGH hat die Geschäftsbedingungen von Facebook für die Löschung von Nutzerbeiträgen und Kontensperrungen für unwirksam erklärt, weil die Nutzer:innen nicht nachträglich über die Löschung von Beiträgen und nicht vorab über die Sperrung ihrer Accounts informiert werden. Dabei müsse Facebook den Nutzer:innen sowohl den Grund mitteilen sowie ihnen die Möglichkeit geben, sich zu dem Sachverhalt zu äußern, um gegebenenfalls eine neue Entscheidung zu treffen.

Die unter den unwirksamen Geschäftsbedingungen entstandenen Löschungen müssen wiederhergestellt werden und der Nutzer darf nicht dafür bestraft werden, wenn er den vormals gelöschten Beitrag wieder einstellt. Das geht aus dem am Donnerstag veröffentlichten Urteil (III ZR 179/20 und III ZR 192/20) hervor.

Bei den vor Gericht verhandelten Fälle hatten sich die Kläger:innen in deutlich rassistischen Worten pauschal über Migranten ausgelassen. Das Gericht befasste sich jedoch nicht im Detail mit diesen Äußerungen, sondern mit den Geschäftsbedingungen, auf deren Grundlage sie gelöscht wurden.

Im Urteil nahm der BGH dabei eine Abwägung zwischen den kollidierenden Grundrechten der Kläger und Facebook vor. Während die einen sich auf ihre Meinungsäußerungsfreiheit berufen können, kann das soziale Netzwerk seine Berufsausübungsfreiheit geltend machen.

Daraus leitete das Gericht zwei grundlegende Dinge ab: Einerseits darf Facebook Regeln aufstellen, die strenger seien als die strafrechtlichen Vorgaben des Staates und bei deren Verletzung Beiträge löschen und Benutzer sperren. Auf der anderen Seite sei Facebook aber verpflichtet, den Grund mitzuteilen und Nutzer:innen die Möglichkeit zur Gegenäußerung zu geben.

Für Facebook und andere soziale Netzwerke dürfte das Urteil wegweisend sein, können sie doch nicht einfach in teilweise algorithmischen gefällten Entscheidungen Nachrichten und Nutzer:innen sperren, sondern müssen sich deren Version noch einmal anhören. Dies war eine langjährige Forderung von Verteidiger:innen der Meinungsfreiheit gewesen.

Angesichts vieler Fehlentscheidungen beim Löschen von Inhalten und Sperren von Accounts ist die Entscheidung des BGH eine deutliche Stärkung der Meinungsfreiheit in sozialen Netzwerken, weil sie den Nutzer:innen erstmals die Möglichkeit gibt, ihre Aussagen in einen Kontext zu setzen und diesen auch gegenüber dem Netzwerk zu erklären.

Was Facebook konkret nach dem Urteil unternimmt und ob es seine Geschäftsbedingungen anpasst, ist noch offen. „Wir werden die Entscheidung des BGH sorgfältig prüfen, um sicherzustellen, dass wir weiterhin effektiv gegen Hassrede in Deutschland vorgehen können“, sagte ein Sprecher laut lto.de. Der Datenkonzern begrüßte, dass er grundsätzlich berechtigt sei, „Inhalte nach eigenen Richtlinien zu entfernen und die betreffenden Nutzerkonten zu sperren.“


Ein Beitrag von Markus Reuter auf netzpolitik.org, Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

 

Umbau

11. Februar 2021

In Europa sollte der Privatsphäre-Standard im Netz durch ein neues Gesetz deutlich steigen. Doch einige EU-Staaten bauten die dringend notwendige Reform zugunsten von Google und Facebook um. EU-Staaten verwässern so das digitale Briefgeheimnis. Die Reform soll die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) vollenden und Nutzer/innen im Netz vor den neugierigen Augen von Staaten und Firmen schützen. Den Gesetzesvorschlag für die ePrivacy-Verordnung machte die Kommission bereits 2017, doch blockierten bislang die EU-Staaten.

Nun hat sich der Rat der EU-Staaten auf eine Position geeinigt, was den Weg zu Verhandlungen über den finalen Text öffnet. Dort dürfte es zu Krach zwischen den EU-Staaten und den Verhandler/innen des EU-Parlaments kommen.

Die neue EU-Verordnung soll es Nutzer/innen im Netz ermöglichen, Tracking besser zu kontrollieren. Ausspähen von Nutzer/innen über Cookies sollte ohne Einwilligung verboten werden und starker Schutz der Privatsphäre müsse zur Standardeinstellung in Browsern werden. Kommunikation über Messengerdienste wie WhatsApp müsse rechtlich gleich gut vor kommerzieller Auswertung geschützt sein wie herkömmliche Anrufe und SMS, fordert das EU-Parlament. Effekt der Regeln sollte eine Art digitales Briefgeheimnis sein.

Doch die EU-Staaten unter der Führung der portugiesischen Ratspräsidentschaft halten nun mit einem Entwurf dagegen, der Schlüsselpassagen deutlich abschwächt und Raum für invasives Tracking offenlässt. Tech-Konzerne wie Google und Facebook könnten damit weiter massiv Nutzer:innendaten abschöpfen.

Eine breite Mehrheit der EU-Staaten unterstützte den portugiesischen Vorschlag, Deutschland und Österreich enthielten sich laut Bericht des Insidermediums Politico.eu.

Der neue Entwurf des Rates erlaubt es, Metadaten von Nutzenden ohne deren ausdrückliche Einwilligung zu verarbeiten. Stattdessen sollen mit der Verarbeitung „kompatible Gründe“ ausreichen (Artikel 6c). Dieser Gummiparagraph würde es WhatsApp und Telefonanbietern gleichermaßen ermöglichen, die Gewohnheiten von Nutzenden für Werbezwecke auszuspähen.

Ermöglicht wird durch neue Formulierungen auch, dass weiterhin durch Cookies persönliche Daten für Werbezwecke gesammelt werden. Während ursprünglich die ePrivacy-Verordnung Cookie-Tracking stark einschränken sollte, gibt Artikel 8 des neuen Entwurfs nun grünes Licht.

Komplett gestrichen sind hingegen die Möglichkeit für Nutzer:innen, ihre Einwilligung in die Verarbeitung ihrer persönlichen Daten jederzeit zu widerrufen. Ebenso fehlt ein Artikel aus den Entwürfen von Kommission und Parlament, der Einwilligungs-Management über den Browser ermöglichen und starken Schutz der Privatsphäre zur Standardeinstellung machen sollte.

Zwar gibt es auch im neuen Entwurf der EU-Staaten klare Verbesserungen für den Schutz der Privatsphäre, für alle Bestimmungen soll allerdings eine Ausnahme für nationale Sicherheit und Verteidigung gelten. Damit kann die Verordnung keinen Schutz vor Massenüberwachung durch Geheimdienste bieten.

Auf den Entwurf der EU-Staaten folgte umgehend Kritik. „Aus Verbrauchersicht ist die Position der EU-Mitgliedsstaaten ein Skandal“, sagte Klaus Müller, Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv). Die Position der EU-Staaten bleibe deutlich hinter früheren Entwürfen zurück, was eine Schwächung des Datenschutzes und der Vertraulichkeit der Kommunikation darstelle.

Einen finalen Text müssen nun die EU-Staaten mit Kommission und Parlament aushandeln. Wortführerin der Abgeordneten ist die SPD-Politikerin Birgit Sippel. Sie lässt wissen, dass sie wenig vom Entwurf des Rates hält. Dieser zeige, „dass die Aushöhlungsversuche der Industrie während der vergangenen Jahre Früchte getragen haben“ – eine Anspielung auf das Lobbying von Tech-Konzernen und der Verlagsbranche.

Sippel möchte möglichst rasch mit den Verhandlungen starten, möchte dabei aber keine faulen Kompromisse eingehen. „Einen Wettlauf nach unten und eine Untergrabung des aktuellen Schutzniveaus bei Datenschutz und Privatsphäre werde ich aber in keinem Fall akzeptieren.“

Bemerkenswerterweise hat heute am gleichen Tag die Bundesregierung den Entwurf für ein neues Datenschutzgesetz für den Bereich der digitalen Kommunikation beschlossen. Im Telekommunikations-Telemedien-Datenschutzgesetz (TTDSG) wird mit mehr als zehn Jahren Verspätung eine Tracking-Regelung der ePrivacy-Richtlinie aus dem Jahr 2009 umgesetzt.

Die Richtlinie ist die immer noch gültige Vorgängerin der nun angestrebten ePrivacy-Verordnung. Schon die Richtlinie besagt, dass Tracking ausschließlich nach expliziter Einwilligung der Nutzer:innen erfolgen darf. Das wurde im deutschen Recht bislang nie umgesetzt, Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes zwingen die Bundesregierung nun zum Handeln. Ausgerechnet jetzt könnte die Neuregelung auf EU-Ebene nach dem Willen des Rates nun eine Schwächung des Tracking-Schutzes bringen.


Ein Beitrag von Alexander FantaCC BY-NC-SA 4.0., auf netzpolitik.org

Facebook hat auf eine Recherche von netzpolitik.org und WELT reagiert und eine Vielzahl von Seiten, Gruppen und Konten gesperrt, die russlandfreundliche Propaganda verbreitet haben. Facebook will dabei auf neue Spuren zu den Hinterleuten gestoßen sein.

Die Botschaft der Russischen Föderation in Berlin teilte uns mit, zu „inoffizieller Medienberichterstattung“ äußere man sich grundsätzlich nicht.
Die Botschaft der Russischen Föderation in Berlin teilte uns mit, zu „inoffizieller Medienberichterstattung“ äußere man sich grundsätzlich nicht. CC0 Rakoon

 

Facebook hat eine große Zahl von Inhalten und Konten eines Desinformationsnetzwerks gesperrt, das dem Konzern zufolge aus den Separatistengebieten in der Ostukraine betrieben wurde. Die Seiten, Gruppen und Konten standen nach Angaben von Facebook im Zusammenhang mit einem Netzwerk gefälschter Auslandsmedien, das netzpolitik.org und WELT im Dezember enttarnt hatten. Unbekannte hatten über die Kanäle pro-russische Propaganda verbreitet. Facebook erachtete die Inhalte als verbotene „ausländische Einmischung“.

Die Hinterleute hatten vermeintlich hiesige Nachrichtenportalen in mehreren europäischen Ländern erstellt, darunter auch Deutschland, Frankreich und Großbritannien, wie unsere Recherche ergeben haben. Sie betrieben mindestens zehn unterschiedliche Websites, die seither, wie das spanische Portal „La tarde republicana“, teilweise aus dem Netz verschwunden sind.

Die Betreiber/innen streuten Falschinformationen, auf einer deutschsprachigen Website mit dem Namen „Abendlich Hamburg“ zum Beispiel über den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Russische Medien griffen diese Desinformation auf und verbreiteten sie weiter, als handele es sich dabei um die authentische Arbeit echter Journalist/innen im Ausland. Das Vorgehen sollte die Lügen offenbar innerhalb Russlands glaubwürdiger machen.

Um die Inhalte zu verbreiten, buchten die Betreiber:innen Facebook zufolge auch Werbeanzeigen auf Facebook und Instagram im Gesamtwert von umgerechnet rund 3300 Euro. Demnach richtete sich das Netzwerk nicht nur – wie bereits bekannt – an Deutschland, Großbritannien, Spanien, die Republik Moldau und Russland. Die Drahtzieher sollen auch Kasachstan, Kirgisistan, die Ukraine und Belarus ins Visier genommen haben.

Zu jeder der Seiten habe es auch eine eigene Domain gegeben mit angeblichen Nachrichteninhalten. Damit war das Netzwerk also noch größer, als zunächst bekannt wurde.

Die verbreiteten Artikel beinhalteten erfundene Behauptungen über einen von Russland verübten Giftanschlag in England, die Präsidentschaftswahl in den USA und Kritik an europafreundlichen Politiker:innen in der Republik Moldau. Im vergangenen Jahr nahmen die Aktivitäten auf den Kanälen offenbar deutlich zu.

In einem Bericht, den Facebook am Dienstag dieser Woche vorgelegt hat, heißt es, die Hinterleute hätten mutmaßlich versucht, die Desinformationsbeiträge beliebter erscheinen zu lassen als sie wirklich waren. Der Konzern löschte nach eigenen Angaben auf Facebook 25 Seiten mit insgesamt rund 23.000 Follower/innen, außerdem 11 Gruppen mit in der Summe etwa 7.000 Mitgliedern. Auch auf Instagram wurde er offenbar aktiv: Dort soll er 19 Konten mit insgesamt 17.600 Follower/innen entfernt haben.

Erst durch unsere Recherchen wurde Facebook auf das Netzwerk aufmerksam, wie es in dem Bericht heißt. Das dilettantische Vorgehen der Hinterleute tat wohl sein Übriges. Es heißt, diese hätten Fake-Konten genutzt, als Profilbilder allerdings Stock-Fotos hochgeladen.

„Obwohl die Personen, die hinter diesen Aktivitäten stehen, versuchten, ihre Identität zu verschleiern, fanden wir Verbindungen zu Personen in der Region Luhansk in der Ukraine“, schreibt Facebook in dem Bericht. Zudem sei der Konzern auf Überschneidungen mit dem Umfeld einer ukrainischen Partei namens Borotba aus der Ukraine gestoßen.

Laut einem Bericht der Rechercheplattform Bellingcat erweckt eine geleakte E-Mail den Eindruck, Borotba könnte in der Vergangenheit geradewegs vom Kreml gesteuert worden sein. Der Parteigründer lebt demnach heute in Berlin und unterhielt enge Verbindungen zu dem Linken-Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko.

„Ich beobachte eine zunehmende Willkür beim Zugriff großer Internetkonzerne auf missliebige Inhalte, die nicht auch noch journalistisch flankiert werden sollte“, teilte der Politiker uns am Mittwoch per E-Mail auf Anfrage mit. Der Bericht von Bellingcat sei „voller Falschinformationen“, die er nicht näher kommentierte. Hunko spricht in diesem Zusammenhang von „haltlosen Gerüchte und Verdächtigungen“.

Es ist unklar, wie genau Facebook nun zu dem Schluss kommt, dass Akteur/innen aus dem Umfeld von Borotba in das Desinformationsnetzwerk verwickelt sein könnten. Aber auch ein Mann namens Greg Butterfield, selbst Politiker einer marxistisch-leninistischen Nischenpartei in den USA, hat sich eingehend mit Borotba beschäftigt, wie aus seinen Veröffentlichungen im Netz hervorgeht.

Butterfield ist nicht irgendwer. Gleich zweimal gab er Portalen Interviews, die wir eindeutig dem Desinformationsnetzwerk zuordnen konnten. Als einer der wenigen wohl nicht unmittelbar an den Websites Beteiligten hatte er offenbar direkten Kontakt zu den Hinterleuten. Auf eine Anfrage hatte Butterfield nicht reagiert.

Das Desinformationsnetzwerk, das wir enttarnt haben, war nur eines von vielen, wie aus dem Facebook-Bericht hervorgeht. WELT berichtet, Facebook habe alleine im Dezember 17 Netzwerke gesperrt, weil dort Desinformation verbreitet oder Meinungen manipuliert wurden. Es seien so viele gewesen wie noch nie zuvor in einem einzelnen Monat.

(Quelle:  in Netzpolitik.org; Creative Commons BY-NC-SA 4.0.)