Die Debatte zur sogenannten Schuldenbremse nimmt Fahrt auf, und das ist bitter notwendig. Nicht wenige halten diese, so euphemistisch formulierte Maßnahme –ich zitiere Marcus Höfgen– für die dümmste aller Regeln, die aber 2009 mit Zweidrittelmehrheit von CDUCSUSPD ins Grundgesetz gegossen wurde. Der damalige SPD-Finanzminister Peer Steinbrück war übrigens seinerzeit die treibende Kraft für den Bund, Horst Seehofer für die Länder. Übrigens: Die FDP enthielt sich damals, weil ihr die Schuldenbremse für die Länder noch nicht streng genug war. Finanzpolitik für die FDP machte damals der heutige Verkehrsminister Volker Wissing.

In seiner Rede im Bundestag nannte Steinbrück die Schuldenbremse eine „finanzpolitische Entscheidung von historischer Tragweite“. Damit hat er jetzt Recht behalten.  Als Begründung für die Schuldenbremse sagte Steinbrück auch, dass Deutschland „in einem Schraubstock der Verschuldung“ stecke. „Der steigende Schuldenstand und die steigende Zinslastquote verkarsten den Bundeshaushalt zusammen“. Um die Zinsen zu senken, müsse Deutschland das Vertrauen der Finanzmärkte zurückgewinnen. Im Wortlaut, der auch so heute von Christian Lindner gesprochen wird, klang das so: „Wir müssen auch den Finanzmärkten ein Signal geben, dass in Deutschland eine solide Haushaltspolitik betrieben wird“.

Und jetzt haben wir den Salat: Denn das Bundesverfassungsgericht hat die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse auch noch ausgesprochen restriktiv ausgelegt. Daher fällt sie jetzt  unserem ganzen Land auf die Füße, und kluge Leute in der Politik wie anderswo suchen einen Ausweg. Schleswig-Holstein hat Donnerstag die haushaltspolitische Notlage beschlossen,  Ministerpräsidenten der CDU stellen die Bremse in ihrer konservativen Auslegung in Frage. Und Grüne, Gewerkschaften und Steinbrücks SPD sehen entsetzt, welchen Stillstand sie bedeutet. Tatsächlich macht es einen großen Unterschied, ob mit Schulden Umbau- und Infrastruktur-Investitionen für Jahrzehnte bezahlt werden oder bspw. nur die Fußball-EM im nächsten Jahr. Also muss diese Zukunftsbremse geändert werden.

Auch juristisch äußert sich Kritik. In einem Beitrag für den renommierten Verfassungsblog kritisieren jetzt der Jurist Lukas Märtin und der Wirtschaftswissenschaftler Carl Mühlbach die Gerichtsentscheidung als „Katalysator der Polykrise“, denn die verfassungsgerichtliche Überprüfung sei ein Hindernis für die politische Gestaltungskraft. Hier der Text, den ich mit einem  energischen „Lesebefehl!“ für diesen Novembersonntag schmücke:

„Am 15. November 2023 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zum ersten Mal über die Vorschriften der Schuldenbremse im Grundgesetz entschieden. Das Gericht erklärte das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 für unvereinbar mit dem Grundgesetz (GG) und daher nichtig. Das nun ergangene Urteil verdeutlicht erneut, dass die aktuelle Ausgestaltung des Staatsschuldenrechts in eine finanzrechtliche, vor allem aber finanzpolitische Sackgasse führt. So setzt sich im Urteil durch die restriktive Auslegung der Schuldenbremse die Entpolitisierung des parlamentarischen Haushalts- und Budgetrechts, die „Königsdisziplin des Parlaments“, fort. Daneben beschränkt das Urteil auf erhebliche Art und Weise die Handlungsfähigkeit des Staates und versetzt auch der Wehrhaftigkeit der Demokratie einen Dämpfer. Letztlich ist die Schuldenbremse, wie sie sich nun durch das Urteil darstellt, ein Todesstoß für politisches Denken in langfristigen Zusammenhängen – obgleich dieser Gedanke vom BVerfG erst vor zwei Jahren im sogenannten Klima-Beschluss prominent angebracht wurde.

Zwischen politischer und gerichtlicher Verantwortung

Die ersten Reaktionen in der Öffentlichkeit bewerten das Urteil teilweise als konsequente Ausbuchstabierung der Idee, die der Schuldenbremse zugrunde liegt. Andererseits wird auch das Potenzial des Urteils hervorgehoben, politische Dynamiken für eine Verfassungsänderung anzuschieben. Beiden Ansichten liegt die Annahme zugrunde, dass die Verfassungswidrigkeit des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes, beschlossen im Februar 2022 mit rückwirkender Geltung ab dem 1. Januar 2021, von vornherein klar gewesen ist und dass das Gericht faktisch gezwungen war, den Fall so zu entscheiden und zu begründen, wie es dies nun getan hat. Demnach läge die vollständige Verantwortung für die faktischen Konsequenzen, die sich aus dem Urteil ergeben, beim Verfassungsgeber – und damit der Politik.

Dies ist schon deswegen abwegig, weil – wie [Verfassungsrichterin] Doris König bei der Urteilsverkündung selbst sagte – das Gericht terra incognita betrat, als es nun zum ersten Mal die Vorschriften der Schuldenbremse, insbesondere Art. 109 und 115 GG interpretierte. Abgesehen davon beinhaltet das Urteil weitgehende Feststellungen, die für die bloße Verfassungswidrigkeit des Nachtragshaushaltsgesetzes nicht strikt notwendig gewesen wären und daher die eigenständige Bedeutung der Interpretation des Gerichts hervortreten lassen. Während der Vorwurf des haushälterischen Taschenspielertricks in Hinblick auf die „Umgehung“ der Schuldenbremse durch den rückwirkenden Nachtragshaushalt politisch sicherlich gewisse Überzeugungskraft besitzt, trifft das auf die rechtliche Einordnung nicht zu. Herauszuarbeiten, welche Haushaltsmanöver eine Umgehung, ein unzulässiges „Austricksen” der Schuldenbremse darstellen, ist genuine Aufgabe des Gerichts, das den Anwendungsbereich der Vorschriften nun konkretisiert und restriktiv gestaltet hat. Lediglich auf die Verantwortung des Verfassungsgebers, der die Schuldenbremse selbst im Grundgesetz verankert hat, zu verweisen, greift also zu kurz.

Nachträgliche Symptombekämpfung statt präventiver Krisenabwendung

Die Systematik der Schuldenbremse hält den Gesetzgeber dazu an, politische Ziele im Regelfall ohne Schulden zu erreichen. Dabei ist – aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht –  die Ausgabe von Staatsanleihen ein so sinnvolles wie übliches Instrument zur Staatsfinanzierung. Umsichtige Finanzpolitik strebt keine Schuldenfreiheit, sondern ein vernünftiges Maß an Schulden an  – im Gegensatz zur derzeitigen Ausgestaltung der Schuldenbremse, welche dem Staat nur in Ausnahmefällen Kreditaufnahmen in nennenswertem Umfang gestattet. Diese Ausnahmefälle befinden sich in Art. 115 II 6 GG. Demnach kann die Schuldenbremse im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, ausgesetzt werden.

Das BVerfG verlieh dieser Voraussetzung in seinem Urteil Konturen und stellte, bis auf die Einschätzung der erheblichen Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage, alle Merkmale unter vollständige verfassungsgerichtliche Kontrolle (Rn. 115). Mit Blick auf die Konstruktion der Notlage fällt auf, dass Kreditaufnahmen immer nur re-aktiv möglich sind. Das Kind muss also schon in den Brunnen gefallen sein, bevor der Gesetzgeber mit Hilfe von Kreditaufnahmen tätig werden darf. Ein aktives und präventives Vorgehen gegen vorhersehbare Krisen ist ohne Kredite zu tätigen. Die Schuldenbremse zwingt den Staat mithin gewissermaßen, Krisen eskalieren zu lassen, bevor Maßnahmen per Kreditaufnahme getätigt werden dürfen. Im Hinblick auf die Klimakrise entpuppt sich die Gefahr dieser Logik. Auf eine „Naturkatastrophe” im Sinne des Art. 115 II 6 GG dürfte der Staat mit Kreditaufnahmen reagieren. Unter Berücksichtigung der Erwägungen des Senats wäre beispielsweise ein Ereignis wie die Flut im Ahrtal eine solche Naturkatastrophe. Für die Bekämpfung der Ursache, die vielen Naturkatastrophen zugrunde liegt, der Klimakrise, darf der Staat allerdings keine Kredite verwenden, was geradezu paradox anmutet.

Ein im Ergebnis effizienteres Vorgehen hatte bereits das BVerfG selbst in seinem Klima-Beschluss von 2021 angemahnt. Unter dem Stichwort des intertemporalen Freiheitsschutzes nahm das Gericht damals erstmals eine intergenerationelle Perspektive ein und schrieb vor, dass Freiheitschancen der künftigen Generation durch engagierte Klimapolitik in der Gegenwart erhalten werden müssen. Der Zweite Senat schien nun nicht bereit zu sein, an die grundsätzlichen Erwägungen des Ersten Senats aus 2021 anzuknüpfen. Berücksichtigt man, dass das aktuelle Urteil sich mit Ausgaben zur Bekämpfung der Klimakrise auseinandersetzt, wäre es nicht abwegig gewesen, eine Auslegung des Staatsschuldenrechts im Lichte des Art. 20a GG vorzunehmen, wie auch Lennart Starke vorschlägt.

Langfristige Transformation versus Jährigkeit der Schuldenbremse

Neben der Auslegung der Notlagenklausel gem. Art. 115 II 6 GG beschäftigte sich das Gericht weiterhin damit, inwiefern allgemein anerkannte Grundsätze der Haushaltspolitik Teil des grundgesetzlichen Staatsschuldenrechts sind. Hervorzuheben ist dabei aus einer finanzpolitischen Perspektive der Grundsatz der Jährigkeit. Zunächst hielt das BVerfG fest, dass die Jährigkeit vollständig überprüfbarer Teil des Staatschuldenrechts im Grundgesetz ist (Rn. 155), welche nur in eng begrenzten Ausnahmefällen durchbrochen wird (Rn. 160). Dieser Grundsatz zwingt den Gesetzgeber und die Exekutive, in einem bestimmten Jahr vorgesehene Kreditermächtigungen auch vor Ablauf eben dieses Jahres tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Andernfalls entfällt die Ermächtigung ersatzlos. Sinn und Zweck dieses Grundsatzes sei es, eine „Lastenverschiebung in die Zukunft” zu verhindern (Rn. 162). Konkret soll verhindert werden, dass Notlagen benutzt werden, um den haushaltspolitischen Spielraum kommender Jahre über einen “Vorrat” an Kreditermächtigungen zu erweitern.

Die politische Übersetzung dieses Gedankens lieferte kurz nach der Urteilsverkündung sodann auch der ehemalige Kanzleramtsminister Helge Braun, indem er festhielt, dass es wichtig sei, den kommenden Generationen genügend finanziellen Spielraum zu belassen, um unter anderem die Anpassung an den Klimawandel zu bewältigen. Auch hier wünschte man sich, dass die Erwägungen des Ersten Senats aus dem Jahr 2021 Eingang in politische und verfassungsrechtliche Reflexionsprozesse nehmen würden.

Es bleibt nämlich zu bezweifeln, wie sinnvoll eine Fiskalregel ist, die den Gesetzgeber daran hindert, die Klimakrise in der Gegenwart mithilfe von Krediten adäquat zu bekämpfen, lediglich um kommenden Generationen „finanziellen Spielraum” für die Anpassung an eben jenen nicht hinreichend eingedämmten Klimawandel zu belassen.

Bemerkenswert ist…“

[weiter im Verfassungsblog]


Foto: Roben im Bundesverfassungsgericht, CC s. den Blog-Beitrag vom 26.02.2012

Die Gefahr erneuter Strafverfolgung nach einem Freispruch ist vom Tisch – auch wenn es um Mord geht. Das Bundesverfassungsgericht (BverfG) entschied heute in einem Urteil ((Urt. v. 31.10.2023, Az 2 BvR 900/22)), dass auch bei schwersten Straftaten ein neuer Prozess unzulässig ist. Grundlage ist eine Gesetzesänderung der Großen Koalition aus dem Jahr 2021, welche so etwas bei Mordfällen und Kriegsverbrechen vorsah.

Der mutmaßliche Mörder der 17-jährigen Friederike M. war 1983 rechtskräftig freigesprochen worden. 2012 tauchten neue Spuren auf, jedoch konnte der heute 60-Jährige wegen des Verbots der Doppelverfolgung nicht erneut angeklagt werden. Das änderte sich mit der Gesetzesreform. Schon der Bundespräsident unterschrieb das Gesetz nur mit Bedenken. Das Bundesverfassungsgericht setzte den mittlerweile ergangenen Haftbefehl gegen den Verdächtigen Ende 2022 außer Vollzug und prüfte das Gesetz.

Das BVerfG entschied nun, dass die neue Vorschrift mit dem Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und dem Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) unvereinbar und nichtig ist. „Art. 103 Abs. 3 GG gewährt dem Prinzip der Rechtssicherheit absoluten Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit“, so das Gericht. Diese Vorrangentscheidung sei auch absolut und stehe einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen. Bei systematischer Betrachtung erscheine Art. 103 Abs. 3 GG als „abwägungsfest“, so das Gericht.

Damit stellt Karlsruhe klar: Ein Freispruch ist ein Freispruch. Das war schon bei den Griechen vor fast 2500 Jahre so: „Ne bis in idem“ heißt seit den Römern der jetzt vom Verfassungsgericht in bemerkenswerter Klarheit geurteilte Verfassungsgrundsatz. Der Rechtsstaat hält die damit verbundenen Spannungen aus – allen Beschimpfungen in sozialen Medien zum Trotz.


Mehr: Thomas Fischer I, Thomas Fischer II
Mehr: LTO heute

Quelle: LawBlog/Udo Vette

Namensschild

3. Dezember 2022

Polizisten können zum Tragen von Namensschildern verpflichtet werden. Das Bundesverfassungsgericht wies die Beschwerde einer Kommissarin aus Brandenburg zurück. Diese befürchtete, dass ihr Name nach dem Einsatz gegoogelt wird und ihr dadurch Nachteile entstehen.

Wie schon die Verwaltungsgerichte weisen die Verfassungsrichter darauf hin, dass jeden Tag auch eine Vielzahl anderer Beamte ihren Namen preisgeben, wenn sie mit Bürgern sprechen, Briefe rausschicken und Bescheide erlassen. Die Polizistin habe nicht nachvollziehbar dargelegt, wieso sie stärker gefährdet sei als viele andere Angehörige des öffentlichen Dienstes.

Die Polizistin wandte außerdem ein, eine Dienstnummer reiche im Zweifel aus. Allerdings, so das Bundesverfassungsgericht, gehe es den Polizeibehörden auch um Bürgernähe. Dieses Ziel werde mit einer Dienstnummer eher nicht erreicht. Letztlich weisen die Verfassungsrichter darauf hin, dass die Beamtin mit entsprechenden Privatsphäreeinstellungen in sozialen Netzwerken und einer Sperre ihrer Meldedaten selbst den von ihr befürchteten „Google“-Effekt mindern könne (BVerfG, Beschl. v.4.1.2022, Aktenzeichen 2 BvR 2202/19).


Text/Quelle: LawBlog/Udo Vetter

Kürzungen verfassungswidrig

25. November 2022

Dass die Leistungen für alleinstehende und alleinerziehende Asylsuchende und Geduldete in Sammelunterkünften seit 2019 um zehn Prozent gekürzt werden, ist verfassungswidrig. Das hat das Bundesverfassungsgericht durch Beschluss vom 19. Oktober entschieden, der gestern bekannt geworden ist (1 BvL 3/21, juris, Presseerklärung)

Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts heißt es: „Weder im Gesetzgebungsverfahren noch im verfassungsrechtlichen Verfahren wurde hinreichend tragfähig begründet, dass tatsächlich die Möglichkeit besteht, diese Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften in Sammelunterkünften zu erzielen.“ (Rn 90) Dieses Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz fällte heute das Bundesverfassungsgericht in einem von PRO ASYL unterstützten Verfahren.

Menschenwürdiges Existenzminimum gilt für alle Menschen gleich in Deutschland

Wiebke Judith, rechtpolitische Sprecherin von PRO ASYL, kommentiert das Urteil: „Mit seinem heutigen Urteil stärken die Verfassungsrichter und -richterinnen ihre bisherige Rechtsprechung und stellen fest: Die Menschenwürde gilt für alle Menschen gleich in Deutschland. Migrationspolitisch motivierten Kürzungen im Asylbewerberleistungsgesetz und Kürzungen ohne Faktenbasis wird eine klare Absage erteilt. Das Bundesverfassungsgericht ist somit erneut ein wichtiges Korrektiv, um ein menschenwürdiges Leben für schutzsuchende Menschen in Deutschland zu garantieren.“

Das Bundesverfassungsgericht hält für aktuelle Debatten höchst relevant fest:

„Migrationspolitische Erwägungen, Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ (Rn. 56)

Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen – Bürgergeld für Geflüchtete

Das Urteil stärkt zudem die Kritiker:innen des Asylbewerberleistungsgesetzes, die seit Jahren die Abschaffung dieses diskriminierenden Gesetzes fordern.

„Das Urteil aus Karlsruhe ist auch ein Arbeitsauftrag für die Ampel-Regierung, endlich den Missständen bei der Versorgung von Asylsuchenden ein Ende zu setzen. Konsequent ist einzig und allein die Abschaffung des diskriminierenden Asylbewerberleistungsgesetzes und die Einbeziehung aller Geflüchteten ins Bürgergeld“, sagt Wiebke Judith.

Schließlich hatte die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag eine Überarbeitung des Asylbewerberleistungsgesetzes „im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ versprochen. Geändert wurde bislang jedoch nichts.

„Das Asylbewerberleistungsgesetz verstößt gegen die Verfassungsgrundsätze der Menschenwürde, des Sozialstaatsprinzips und des Gleichheitsgebots, gegen die UN-Kinderrechtskonvention und das Menschenrecht auf Gesundheit. Die diskriminierenden Sachleistungen und die Minimalmedizin sind dabei auch noch nachweislich teurer als reguläre Sozialleistungen“, sagt Georg Classen, vom Flüchtlingsrat Berlin, der erst vor wenigen Tagen im November 2022 gemeinsam mit PRO ASYL eine umfassende Analyse des Asylbewerberleistungsgesetzes veröffentlicht hat. Und ergänzt: „Arbeitsverbote führen häufig dazu, dass Geflüchtete überhaupt auf Sozialleistungen angewiesen sind. Das gegenüber der Sozialhilfe beziehungsweise Hartz IV abgesenkte Leistungsniveau des Asylbewerberleistungsgesetzes, die Sanktionen mit Kürzungen um mehr als 50 Prozent und der nicht überprüfbare Maßstab für Sachleistungen in Sammellagern führen in der Praxis zu willkürlichen, geradezu beliebigen Einschränkungen des Leistungsniveaus.“

Urteil: Politischer Kompromiss darf nicht zu sachlich nicht begründbaren Ergebnissen führen

Zum Hintergrund der heutigen Entscheidung: Seit September 2019 erhalten alleinstehende und alleinerziehende Geflüchtete um zehn Prozent gekürzte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, wenn sie in einer Sammelunterkunft wohnen. Begründet wird die Kürzung damit, dass die Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften „als Schicksalsgemeinschaft“ wie Ehepartner*innen „aus einem Topf“ zusammen wirtschaften und dadurch Geld sparen würden (Bundestagsdrucksache 19/10052 S. 24).

Hierzu hält das Bundesverfassungsgericht fest:

„Auch ein politisch ausgehandelter Kompromiss darf nicht zu sachlich nicht begründbaren Ergebnissen führen. Schlicht gegriffene Zahlen genügen ebenso wenig wie Schätzungen ins Blaue hinein den verfassungsrechtlichen Anforderungen, wenn sie nicht wenigstens im Ergebnis nachvollzogen werden können.“ (Rn. 59)

„Die pauschale Absenkung nach § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG stützt sich nicht auf hinreichend tragfähige Erkenntnisse dazu, dass Bedarfe durch Verhalten der Betroffenen in diesem Umfang tatsächlich verringert werden können. Hier genügt die Annahme, die Betroffenen bildeten eine „Schicksalsgemeinschaft“ (BTDrucksache 19/10052, S. 24), nicht. Auch die Annahme, dass eine Obliegenheit, gemeinsam zu wirtschaften, tatsächlich erfüllt und dadurch Einsparungen in entsprechender Höhe erzielt werden könnten (vgl. BTDrucksache 19/10052, S. 24), ist nicht durch empirische Erkenntnisse belegt. Entsprechende Untersuchungen liegen auch drei Jahre nach Inkrafttreten der Regelung nicht vor.“ (Rn. 89)

PRO ASYL unterstützte die Klage

Angerufen wurde das höchste deutsche Gericht vom Sozialgericht Düsseldorf, das die Regelung für verfassungswidrig hielt. Geklagt hatte ein geduldeter Mann aus Sri Lanka, der in einer Gemeinschaftsunterkunft lebt, PRO ASYL hat das Verfahren unterstützt. Rechtsanwältin in dem Verfahren ist die ausgewiesene Sozialrechtlerin Eva Steffen, die bereits 2012 erfolgreich gegen das Asylbewerberleistungsgesetz geklagt und vom Verfassungsgericht Recht bekommen hatte.

Dass die zehnprozentige Leistungskürzung nun vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde, überrascht nicht. Zahlreiche Fachorganisationen hatten in dem Verfahren beim Bundesverfassungsgericht kritische Stellungnahmen abgegeben. Für PRO ASYL hat Rechtsanwalt und Sozialrechtsexperte Volker Gerloff in seiner Stellungnahme erläutert, dass die fiktive „Zwangsverpartnerung“ durch den Gesetzgeber jeder sachlichen und empirischen Grundlage entbehrt.

Mit der heutigen Entscheidung wurde das Asylbewerberleistungsgesetz nicht zum ersten Mal vom Verfassungsgericht korrigiert. Schon 2012 hatte das höchste deutsche Gericht jahrelangen Leistungskürzungen durch das Asylbewerberleistungsgesetz in einem wegweisenden Urteil ein vorläufiges Ende gesetzt. Die heute gekippte Regelung ist nicht die einzige im Asylbewerberleistungsgesetz, die offenkundig verfassungswidrig erscheint. In Karlsruhe ist übrigens ein weiteres Verfahren anhängig, diesmal zur Ermittlung der Höhe der Leistungssätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (Az 1 BvL 5/21).

Für die Praxis:
Das Gericht verfügte mit seinem heutigen Urteil die Gewährung ungekürzter Leistungen nach Regelbedarfsstufe 1 ab sofort. Dies gilt auch rückwirkend, soweit gegen entsprechende Kürzungen noch fristgemäß Widerspruch oder Klage eingelegt wird oder wurde. Das Urteil bezieht sich formal nur auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG, ist aber nach rechtlicher Einschätzung von PRO ASYL und dem Berliner Flüchtlingsrat auf die noch geringeren, ebenfalls um zehn Prozent gekürzten Leistungen nach §§ 3/3a AsylbLG für Alleinstehende in Sammelunterkünften übertragbar, gegen die daher jetzt ebenfalls Widerspruch und Klage eingelegt werden sollte. 


Text: Nieders. Flüchtlingsrat, PRO ASYL

Ohrfeige

11. August 2022

Falls ihr heute im Laufe des Tages auch einen lauten Klatsch gehört habt: Das war die Ohrfeige, die das Bundesverfassungsgericht heute an das Landgericht Bochum verteilt hat. Einer Strafvollstreckungskammer dort attestieren die Richter, dass man die aktuelle Rechtslage nicht kennt, falsche Paragrafen anwendet und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht einmal ansatzweise verstanden hat.

Es geht um einen Strafgefangenen. Dieser musste zum Jahresende 2020 binnen vier Wochen vier Mal zur Drogenkontrolle antreten – obwohl gegen ihn kein konkreter Verdacht vorlag. Um „Missbrauch“ auszuschließen, guckten Bedienstete dem Betroffenen beim Pinkeln auf den Schniedel. Dagegen wehrte sich der Gefangene mit mehreren Anträgen, doch diese blieben erfolglos.

Bis die Sache nach Karlsruhe kam, und von dort hagelt es die harsche Kritik nun schriftlich. So habe das Landgericht Bochum schon mal nicht den richtigen Paragrafen gefunden, obwohl das Strafvollzugsgesetz des Landes noch einigermaßen überschaubar ist. Einzelheiten lassen sich in dem heute veröffentlichten Beschluss nachlesen. Schon diese Trottelei bei der Suche nach dem einschlägigen Paragrafen führe dazu, dass die Entscheidung inhaltlich nicht überprüfbar sei.

Außerdem hatte der Betroffene darauf hingewiesen, dass es zu einer Urinkontrolle mit „Aufsicht“ durchaus Alternativen gibt. Konkret erklärte er sich damit einverstanden, dass ihm eine geringe Menge Kapillarblut aus der Fingerbeere entnommen wird (kleiner Pieks, keine Schamverletzung). Fast schon süffisant merken die Richter an, das Strafvollzugesetz NRW sehe diese deutlich mildere Kontrollmöglichkeit mittlerweile vor – und zwar seit seiner Neufassung vom September 2017.

Bedeutsam an dem Beschluss ist die Bekräftigung, dass auch das Schamgefühl von Strafgefangenen nicht zur beliebigen Disposition steht. Es bedarf wirklich gewichtiger Gründe für einen so tiefen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht. Auch Gefangene hätten Anspruch auf „besondere Rücksichtnahme“.

Ganz klar bezeichnen es die Richter überdies als „fraglich“, ob Urinkontrollen in einer Haftanstalt ohne „konkreten Verdacht des Drogenmissbrauchs des betroffenen Gefangenen“ überhaupt angeordnet werden dürfen. Darüber musste das Gericht nicht entscheiden, weil es das Landgericht Bochum ja schon anderweitig gründlich verkorkst hat. Allerdings liest sich die Formulierung fast wie eine Einladung, auch die in vielen JVA sehr beliebten anlasslosen Kontrollen überprüfen zu lassen.

(BVerfG, Beschl. v. 22.07.2022, Az. 2 BvR 1630/21).


Grafik: Wappen des Bundesverfassungsgerichts

Ein Crosspost: LawBlog von Udo Vetter

Erwischt

5. August 2022

Die Zugangshürden und Leistungsausschlüsse beim Kindergeld für EU- und Nicht-EU-Ausländer in Deutschland scheitern vor dem EuGH und vor dem Bundesverfassungsgericht, schreibt der Sozialwissenschaftler Stefan Sell  in seinem Blog und informiert über die aktuellen Entscheidungen:

„Am 3. August 2022 hat uns das Bundesverfassungsgericht unter der Überschrift Ausschluss ausländischer Staatsangehöriger mit humanitären Aufenthaltstiteln vom Kindergeld verfassungswidrig mitgeteilt, dass der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts auf die Vorlage eines Finanzgerichts entschieden habe, »dass § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13. Dezember 2006 … gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verstößt und die Vorschrift für nichtig erklärt.«
(Beschl. v. 28.06.2022, Az. 2 BvL 9/14, 2 BvL 14/14, 2 BvL 13/14, 2 BvL 10/14)

Und:

„Nach Österreich hat es nun Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) erwischt beim Thema Kindergeld. Am 17. Juni 2022 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Solche und andere Kinder in Österreich: Eine Differenzierung der Familienleistungen nach dem Wohnort der Kinder verstößt gegen das EU-Recht. Die damalige österreichische Regierung hatte die Familienleistungen nach dem Wohnort der Kinder „indexiert“, was dazu geführt hat, dass vor allem Familien, deren Kinder in osteuropäischen Ländern leben, weniger Geld bekommen. Das aber verstößt gegen EU-Recht. Der Kern der Entscheidung im österreichischen Fall: »Die Familienleistungen, die ein Mitgliedstaat Erwerbstätigen gewährt, deren Familienangehörige in diesem Mitgliedstaat wohnen, müssen gemäß der Verordnung also exakt jenen entsprechen, die er Erwerbstätigen gewährt, deren Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Da die Preisniveauunterschiede, die innerhalb des die Leistungen erbringenden Mitgliedstaats bestehen, nicht berücksichtigt werden, rechtfertigen es die Kaufkraftunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten nicht, dass ein Mitgliedstaat dieser zweiten Personengruppe Leistungen in anderer Höhe gewährt als der ersten Personengruppe.«

Nun hat es Deutschland „erwischt“. In der für das EuGH bekannten Kürze ist die Mitteilung über das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-411/20 so überschrieben: „Ein Unionsbürger, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Aufnahmemitgliedstaat begründet hat, kann nicht deshalb während der ersten drei Monate seines Aufenthalts vom Bezug von Kindergeld ausgeschlossen werden, weil er keine Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat bezieht.“…“

[Fortsetzung im Blog Aktuelle Sozialpolitik von Prof. Dr. Stefan Sell]

Hafenbetriebsgesetz

15. Januar 2022

In dieser Woche hat das Bundesverfassungsgericht ein Bremer Gesetz für nichtig erklärt, mit dem der „Umschlag von Kernbrennstoffen“ in Bremerhaven ausgeschlossen wurde. Das Gesetz hatte vor allem politisch-symbolische Bedeutung. Zwar wurden auf seiner Grundlage eine Handvoll Transporte von Kernbrennstoffen verhindert – aber nur in Bremen. Sie kamen dann über andere Nordseehäfen ins Land.

Die Diskussion über den Hafenumschlag von Kernbrennstoffen hatte 2010 begonnen als die damalige schwarz-gelbe Koalition im Bund ohne Not die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängerte und aus dem 2002 zwischen der Schröder/Fischer-Bundesregierung und den Stromkonzernen ausgehandelten und vereinbarten Atomausstieg ihrerseits ausstieg. In der Bremer Bürgerschaft forderten damals die Regierungsfraktionen SPD und Grüne den Senat auf, gegen diese kurzsichtige Politik ein Zeichen zu setzen. Die bremischen Häfen sollten für den Transport von Kernbrennstoffen gesperrt werden.

Zwei Jahre später, 2012, wurde dann tatsächlich das „Bremische Hafenbetriebsgesetz“ ergänzt. „Im Interesse einer grundsätzlich auf Nach­haltigkeit und erneuerbare Energien ausgerichteten Gesamtwirtschaft“ wurde die Verschiffung von Kernbrennstoffen ausgeschlossen.

Die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke war zu diesem Zeitpunkt wegen der Katastrophe von Fukushima allerdings längst vom Tisch, nun ging es um einen beschleunigten Atomausstieg – und doch blieb die Hafenklausel ein wichtiges Symbol.

Diese Symbolgesetzgebung hat das Bundesverfassungsgericht jetzt für verfassungswidrig erklärt. Das Bundesland Bremen habe damit seine Gesetzgebungskompetenz überschritten. Bremen habe keine Gesetzgebungskompetenz gehabt. Denn der Bundestag habe im Atomgesetz bereits die grundsätzliche Zulässigkeit von Atomtransporten beschlossen. Raum für abweichende Landesgesetze sahen das Verfassungsgericht nicht. Der Karlsruher Beschluss kam übrigens mit sechs zu zwei Richterstimmen zustande. Sondervoten wurden keine geschrieben. Rechtsmittel sind nicht mehr möglich.

So weit, so nachvollziehbar. Weshalb ich darüber schreibe?

Gegen das Verschiffungsverbot war die Atomwirtschaft vorgegangen. Sie hat(te) Angst, dass das Bremer Beispiel Schule machen könnte; immerhin gibt es längst auch in Hamburg eine Bürgerinitiative, die für das Hamburger Tor zur Welt dasselbe Ziel hat.  Drei Unternehmen hatten zunächst vergeblich den Bremer Staatsgerichtshof, das Verfassungsgericht des Landes, angerufen, der sich aber vor acht Jahren für unzuständig erklärte (Urt. v. 12.04.2013, Az. St 1/12). Dann beantragten sie beim Bremer Senat Ausnahmegenehmigungen. As sie diese nicht bekamen, zogen sie vor Gericht. Das Bremer Verwaltungsgericht hatte das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob der betreffende § 2 Abs. 3 BremHafenbetrG mit Art. 71, Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG und dem „Grundsatz der Bundestreue“ unvereinbar sei. Am Ende steht der jetzt bekannt gewordene Beschluss vom 07. Dezember 2021 (Az. 2 BvL 2/15; mehr)

Eines der drei klagenden Unternehmen war der Brennelementehersteller Acvanced Nuclear Fuels „aus Lingen im Emsland“ (taz). Ganz und gar nicht symbolisch rückt damit eine unverantwortbare Industrie unsere Stadt einmal mehr in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. So viel Wasserstoff kann gar nicht produziert werden, wie nötig ist, den so entstehenden Misskredit auszugleichen.


Quellen: LTO, NOZ, taz, PM,

verweigert

25. August 2021

In vier Staaten Europas dürfen Geheimdienste massenhaft Kommunikationsdaten sammeln und auswerten, darunter der deutsche BND. Darüber berichtet heute netzpolitik.org und schreibt: Wegen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gelten dafür neue Regeln. Die Bundesregierung verweigert aber weiterhin die Antwort, ob sie aufgrund des Urteils einen Handlungsbedarf beim BND-Gesetz sieht.

BND-Zentrale in Berlin. Zaunansicht.

Die Bundesregierung grübelt schon seit Monaten, ob sie einen Handlungsbedarf sieht, der wegen eines höchstrichterlichen Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 25. Mai dieses Jahres entstanden sein könnte. Im Juni versprach das Bundesinnenministerium, das Urteil werde „derzeit intensiv geprüft und ausgewertet“. Man stimme sich auch mit den „betroffenen Ressorts“ ab. Nun teilt das Ministerium mit, dass es auch noch weiter zu prüfen gedenkt. Das geht aus einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage (pdf) hervor, die wir veröffentlichen.

Es geht inhaltlich um die Einhegung der Befugnisse der Geheimdienste bei der Massenüberwachung der Kommunikation, insbesondere die des aktuell wieder in starker Kritik stehenden Bundesnachrichtendienstes (BND). Der hatte die Notwendigkeit, dass er weiterhin ohne Anlass enorme Datenmengen einsammeln müsse, immer wieder gerade auch am Beispiel Afghanistan zu begründen versucht. Dass aber die weitreichenden Befugnisse des Geheimdienstes in der aktuellen Afghanistan-Krise irgendwie hilfreich gewesen seien, behaupten nicht einmal mehr diejenigen, die sich sonst stets für mehr technische Überwachungsmaßnahmen und die anlasslose strategische Überwachung starkmachen.

Das BND-Gesetz gibt dem deutschen Auslandsgeheimdienst die Befugnis, massenhaft Kommunikationsdaten zu sammeln und auszuwerten. Das Urteil des EGMR legt für diese Massenüberwachung und für deren Beaufsichtigung neue Anforderungen fest. Wie es schon das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum BND-Gesetz aus dem Jahr 2020 festgestellt hatte, so fordert auch der Straßburger Gerichtshof, dass Geheimdiensten klare Schranken bei der Überwachung von Journalisten auferlegt werden.

Da das Urteil des EGMR zwar gegen die britische Regierung und den dortigen Geheimdienst GCHQ erging, aber auch alle anderen Staaten der Europäischen Menschenrechtskonvention bindet, war bereits kurz nach der Entscheidung der Großen Kammer des Gerichtshofs bei der Bundesregierung eine Reaktion erfragt worden. Auf eine erneute schriftliche Frage des Abgeordneten und stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Konstantin von Notz, am 10. August 2021 gab für das Innenministerium Hans-Georg Engelke nun eine weitere wenig aussagekräftige Antwort:

Die Prüfung innerhalb der Bundesregierung ist noch nicht abgeschlossen.“

Der Staatssekretär verweist ansonsten nur auf seine vorherige Antwort vom Juni (pdf).

Konstantin von Notz (Grüne). – Alle Rechte vorbehalten Stephan Pramme

Der Grüne von Notz, der auch stellvertretender Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Geheimdienste ist, bemerkt dazu:

„Zehn Jahre nach den Enthüllungen von Edward Snowden hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die britischen und schwedischen Gesetzesgrundlagen für weitgehend illegal erklärt und weiteren Reformbedarf bei der Kontrolle geheimdienstlicher Überwachungsmaßnahmen aufgezeigt. Aufgabe der Bundesregierung wäre es, das Urteil schnellstmöglich hinsichtlich zu ziehender gesetzgeberischer Konsequenzen zu analysieren. Solche hätten bereits im Rahmen der Reform der Aufsicht über den BND gezogen werden können und müssen. Darauf hatten auch die Sachverständigen in der Anhörung des Innenausschusses hingewiesen.“

Stattdessen spiele die Bundesregierung aber weiter auf Zeit, so von Notz:

„Offenkundig plant sie keine gesetzgeberischen Konsequenzen mehr in dieser Wahlperiode zu ziehen. Anders ist es kaum zu erklären, dass sie trotz mehrfacher Nachfragen rund ein knappes Viertel Jahr nach dem Urteil noch immer zu ziehende Konsequenzen prüft.“

Neben Großbritannien sind Frankreich, Schweden und eben Deutschland von dem Urteil des Gerichtshofs deswegen in besonderer Weise betroffen, da diese europäischen Staaten eine geheimdienstliche Massenüberwachung der Kommunikation per Gesetz erlauben. Hierzulande regelt das BND-Gesetz diese sogenannte „strategische Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung“. Es musste wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts überarbeitet und verbessert werden, da es in Teilen verfassungswidrig war.

Doch auch die in diesem Jahr erfolgte Reform des BND-Gesetzes steht in der Kritik. So sieht von Notz darin nur eine „unzureichende Neuregelung der Kontrolle der Arbeit der Nachrichtendienste“. Wegen der „Verweigerungshaltung der amtierenden Großen Koalition“ dürfte aus seiner Sicht dann erst eine neue Bundesregierung nach der Bundestagwahl vor der Aufgabe stehen, gesetzgeberisch auf das Urteil zu reagieren.

Keines der Länder mit geheimdienstlicher Massenüberwachung kann übrigens auf hilfreiche Erkenntnisse in der Afghanistan-Krise verweisen, obgleich nicht nur der BND, sondern auch etwa der mit Abstand größte der Geheimdienste, das britische GCHQ, den Militäreinsatz am Hindukusch seit Jahren als Begründung für die Notwendigkeit der Massenüberwachung der Kommunikation heranzieht.

(Quelle: Constanze Kurz auf netzpolitik.org; CC BY-NC-SA 4.0.)

deutlich schneller

8. Mai 2021

Vor dem Hintergrund des aktuellen Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz (Beschl. v. 24.03.2021, Az. 1 BvR 2656/18 u.a.) hat jetzt der Naturschutzbund (NABU) den Verzicht auf die Hasetalautobahn von der niederländischen Grenze bis Cloppenburg/Emstek gefordert, die reichlich euphemistisch „vierstreifiger Ausbau der E233“  genannt wird. Ausgebaut wird die E 233 nämlich gar nicht, sie soll nämlich parallel zur jetzigen B 213 als völliger Straßenneubau entstehen.

Das Bundesverfassungsgericht hatte bekanntlich in der letzten Woche entschieden, dass das Bundes-Klimaschutzgesetz zu kurz greift und die Politik dieses Gesetz nachbessern muss, um die Freiheitsrechte künftiger Generationen zu schützen. „In dem Zusammenhang ist es unverantwortlich, dass von den Landkreisen Emsland und Cloppenburg ein Straßenausbau weiter verfolgt wird, der laut den Planungsunterlagen zur Steigerung der Verkehrs um 100.000 Fahrzeugkilometer pro Tag führen wird,“ beklagt Katja Hübner, Mitarbeiterin des NABU-Regionalverbandes Emsland/Grafschaft Bentheim. Der Mehrverkehr entstünde insbesondere durch die wegfallenden Auf- und Überfahrten und die dadurch erforderlichen Umwege, erklärt die Landschaftsarchitektin. Besonders da beide Landkreise immer wieder erklärten, sich dem Klimaschutz verpflichtet zu fühlen, sei es nun einmal an der Zeit, diesen Klimaschutz auch im Rahmen des Straßenbaus zu leben. Dementsprechend müsse auf den vierstreifigen Ausbau verzichtet werden, fordert der NABU.

Stattdessen plädiert der Naturschutzverband für den den Bau von Überholstreifen, also den dreisuprigen Ausbau der bestehenden Bundesstraße, wie man es von der Ortsumgehung Lastrup kennt. Damit hat der Verband natürlich recht, zumal dieser tatsächliche Ausbau deutlich schneller erfolgen würde als die Autobahn quer durchs Hasetal. 

Übers „Containern“

20. August 2020

Das Retten von Lebensmitteln vor dem Wegwerfen, das sogenannte Containern, kann strafbar sein. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Die Wegnahme von Lebensmitteln aus dem Müll bleibt prinzipiell strafbar. Das hat das Bundesverfassungsgericht mit einem vorgestern veröffentlichten Beschluss entschieden und damit zwei Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich gegen entsprechende Verurteilungen richteten. Der Gesetzgeber dürfe das Eigentum grundsätzlich auch an „wirtschaftlich wertlosen Sachen“ mit den Mitteln des Strafrechts schützen, hieß es zur Begründung.

Zwei Frauen waren durch ein Gerivht in Bayern verwarnt worden und mussten acht Stunden gemeinnützige Arbeit leisten, weil sie sie sich Lebensmittel aus dem Abfallcontainer eines Supermarktes genommen hatten. Gegen die sog. Verwarnung mit Strafvorbehalt erhoben die Betroffenen Verfassungsbeschwerde.

Laut der Entscheidung sind auch Sachen in einem Abfallcontainer „fremd“ und damit taugliches Diebstahlsobjekt. Dies begründet das Gericht mit dem Hinweis auf das weitgehende Eigentumsrecht nach dem Grundgesetz. Der Supermarkt hatte die Container nicht nur abgeschlossen; er ließ sie auch von einem Entsorgungsbetrieb leeren. Schon hieraus ergebe sich, dass dem Markt die Lebensmittel nicht „gleichgültig“ seien, betonen die Richter. Vielmehr sei es durchaus nachvollziehbar, dass Märkte etwas gegen das Containern haben, schon weil sie ansonsten Haftungsrisiken befürchten müssen, wenn Dritte die abgelaufene und möglicherweise auch verdorbene Ware konsumieren. Schon das berechtigte Interesse, Rechtsstreite zu vermeiden und erhöhten Sorgfaltspflichten aus dem Weg zu gehen, müsse anerkannt werden.

Es sei Sache des Gesetzgebers, ob er das Containern möglicherweise legalisieren wolle, etwa mit Blick auf Art. 20a GG (Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen). So lange das aber nicht geschehe, bleibe die grundsätzliche Strafbarkeit bestehen. Allerdings weist das Gericht auch darauf hin, dass es im Straf- und Strafprozessrecht Möglichkeiten gibt, der „geringen Schuld“ des Täters Rechnung zu tragen – etwa mit einer Einstellung wegen Geringfügigkeit oder gegen eine Geldauflage. Die vom Amtsgerichts ausgesprochene Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) sei einzelfallbezogen nachvollziehbar und verstößt deshalb nicht gegen das Übermaßverbot.

Klar ist jetzt jedenfalls, dass das Containern nur über Gesetzesänderungen möglich sein wird. Es gibt auch einige Gesetzesiniativen für die Entkriminalisierung des Containerns, zum Beispiel von der Fraktion Die Linke.

Ein interessanter Aufsatz in der „Kriminalpolitischen Zeitschrift“ beleuchtet die Hintergründe (BVerfG, Aktenzeichen 2 BvR 1986/19, 2 BvR 1985/19).

(aus LawBlog.de; Quelle auch Tagesspiegel; Foto: twitter)