17 Ratsmitglieder haben gestern den Haushaltsentwurf der Stadt Lingen (Ems) für das Jahr 2023 abgelehnt. Nur 22 aus der Gruppe CDU-FDP und der OB stimmten mit Ja, vier Ratsmitglieder fehlten. Ein (fast) historisches Ergebnis.  Mit Nein stimmten jeweils geschlossen die BürgerNahen, die Fraktion von Bündnis’90/Die Grünen mit der FWL und die SPD-Vertreter, um sich zeitgleich von der CDU/FDP-Gruppe und OB Krone anzuhören, dass ihre Kritik unberechtigt sei und sie sich an beide hätten wenden müssen, um „im Gespräch außerhalb der Ausschusssitzungen“ mehr von den eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Die nämlich hatte die CDU/FDP-Gruppe in den Asschussberatungen zuvor fast vollständig abgelehnt. Mit dieser Art des „Victim-Blaming“ überzeugte die müde wirkende Ratsmehrheit aber inhaltlich nicht.

Robert Koop, Fraktionschef der Fraktion „Die BürgerNahen“, hatte zuvor das Votum der BN so begründet:

„(Anrede)

Lassen Sie mich -in der gebotenen Kürze- unsere Stellungnahme zum Haushalt abgeben:

1.  Wir wissen sehr wohl, dass eine Haushaltssatzung nicht automatisch dazu führt, dass sich binnen eines Jahren die Verschuldung der Stadt um 36 Mio Euro erhöht. Aber dies kann der Fall sein. Und hinzu kommen die noch offenen Kreditermächtigungen aus 2021 und 2022 in Millionenhöhe. Eine solche Etatwirtschaft ist nicht richtig.

2. Sie geht einher mit einer enormen Ausweitung des Personaletats. Alles in allem übersteigen die Personalkosten aktuell  geradezu unerhörte 35 Millionen Euro – rund 6 Millionen mehr als noch 2021. Zur Erinnerung: Das Jahr 2021 liegt  gerade einmal  15 Monate zurück. Diese Politik nimmt die Kraft zu Investitionen. Das ist falsch.

3. Wir halten auch den Beschluss für grundfalsch, den Etat zu einem Großteil mittels sogenannter Liquiditätsdarlehen auszugleichen, die ja in Wahrheit Kontokorrentdarlehen sind. Das nämlich höhlt das Kontrollrecht des Rates aus. Nicht mehr ein Darlehen wird aufgenommen sondern der OB erhält einen erheblichen Freiraum, die Stadt zu verschulden, ohne dass dem Rat die genauen Konditionen bekannt sind. Diese Art der Verschuldung steht mit 40 Millionen Euro im Beschlussvorschlag. 40 Millionen ! Das ist doppelt so viel wie in den letzten Jahren und bereits das war nicht in Ordnung.

4. Auch der Haushalt der zu 100% städtischen Grundstücks- und Erschließungsgesellschaft macht uns große Sorge. Die Gesellschaft schiebt Darlehen von 22 Millionen Euro vor sich her Das ist der Stand vom 31.12.2021, also nicht einmal aktuell. Der Haushalt enthält trotzdem keinen Vorschlag, diese Gesellschaft zu entschulden, obwohl allein die Schuldenlastfür 22 Mio Verbindlichkeiten den Etat dieser Gesellschaft mit knapp 1 Mio Euro Zinsen belasten wird.

5.  Auch in diesem Jahr sind wieder fast alle Sachanträge der BürgerNahen abgelehnt worden.

Erfolgreich war dabei allerdings die fraktionsübergreifende Balkonkraftwerk-Initiative der BN und der Grünen für  mehr Photovoltaik. Allerdings ist die Zielgruppe natürlich eine andere als die, die wir als BN vor Jahresfrist vorgeschlagen haben:  Die BN wollte arme Lingener Haushalte entlasten und ihnen kostengünstig, quasi zum Nulltarif Balkonkraftwerke zur Verfügung stellen,. Das ist damals abgelehnt worden. Jetzt kommen zwar Balkonkraftwerke, aber nur für solche Haushalte, die mal eben einige Hundert Euro ausgeben können. Das ist zwar nicht schlecht, aber der erste BN-Vorschlag war besser und da müssen wir auch wieder hin.

Ohnehin reicht das Ja zu Balkonkraftwerken oder auch zu Großbaumverpflanzungen ebenso wenig aus, zu überzeugen, wie die Annahme des rein organisatorischen Vorschlags der BN, für 2024/2025 einen Zweijahreshaushalt aufzustellen. Damit können wir dann den Haushalt 2026 wieder zum Jahresbeginn vorlegen, so wie es das Gesetz verlangt und wie es auch notwendig ist, um nicht erst dann die Etat-Investitionsmittel zur Verfügung haben, wenn nach Genehmigung des Haushalts das Jahr zur Hälfte oder drei Viertel rum ist.

Abgelehnt wurden leider auch alle Perspektivanträge der BürgerNahen. Also Anträge, die etwas für die Zukunft zu tun. Geradezu körperlich unangenehm und statisch empfinden wir dabei das Nein zu der von uns vorgeschlagenen Stabsstelle Gesundheitsförderung – angesichts der drängenden Sorgen im Bereich der Gesundheitsförderung und ärztlichen Versorgung muss die Kommune so schnell wie möglichhandeln. Weil dieser Antrag so wichtig und ein Herzensanliegen war und ist noch einmal die Formulierung:

„Lingen braucht angesichts seiner Größe und immer weiter steigender, vielfältiger gesundheitlicher Problemstellungen unterhalb der Landkreisebene eine qualifizierte örtliche Ansprech- und Clearingstelle zur Gesundheitsförderung.

Ihre Aufgaben sollen Sicherung und Verbesserung der ärztlichen und fachärztlichen Versorgung in der Stadt sein, der Kontakt und die Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern, gesetzlichen Krankenversicherungen, Ärztevereinen, Apotheken und Kammern, betriebsärztlichen Stellen, Hilfsorganisationen sowie die Prävention – auch in Zusammenarbeit mit dem Behindertenbeauftragten und der Gleichstellungsbeauftragten und von Vereinen, die sich um Menschen kümmern, die infolge ihres seelischen Zustandes auf die Hilfe anderer angewiesen sind.

Die Stabsstelle soll gesundheitsfördernde Entwicklungsprozesse in der Stadt anstoßen, koordinieren und begleiten, insbesondere in Kitas und Schulen sowie Senioreneinrichtungen. Sie soll die Stadtplanung aus gesundheitspräventiver Sicht begleiten, insbesondere mit Bereitstellung/Unterhaltung von Sport- und Grünflächen, Fahrrad- und Fußwegen etc. Sie soll Vereine fördern (insbesondere Sportvereine) zur Gewährleistung niedrigschwelliger Zugänge zu Bewegungsangeboten unddie Schaffung von Bewegungsgelegenheiten, -räumen und sonstigen infrastrukturellen Voraussetzungen für Bewegung (z. B. Fahrradstellplätze, Umkleidemöglichkeiten) anregen und fördern.

Sie soll Gesundheitsnetzwerke bilden und fördern sowie MultiplikatorInnen gewinnen.“

Und was ist bei dieser Initiative herauskommen? Erst einmal der nicht sonderlich intelligente Versuch des OB, das Thema in der nicht-öffentlichen Sitzung verschwinden zu lassen, weil es ja um eine neue Stelle im Rathaus gehe. Da aber gehört es natürlich überhaupt nicht hin. Dann wurde der Antrag abgelehnt, weil doch der Landkreis für das Gesundheitsamt zuständig sei und man ggf. für die Ansiedlung von Ärzten Wirtschaftsförderungsmittel einsetzen werde. 

Doch stell dir bloß vor, du bist krank und musst nach Osnabrück oder Münster, Oldenburg oder gar Bremen, um mit einem Doc zu sprechen. Das ist leider die Realität, weil wir uns nicht vorbereiten, da ja Andere zuständig sein sollen. Ich frage: Auch für und in Lingen?

Wenn ja, dann sagt das bitte öffentlich den Menschen in Lingen, die unter der unzureichenden Gesundheitspolitik im wahrsten Sinne leiden. Keiner der Punkte, die wir vorschlagen wird jedenfalls aktuell vom Landkreis gelöst oder angegangen. Was wir vorschlagen, fehlt bisher völlig und muss unterhalb der Landkreisebene für unsere Stadt mit den vom OB immer wieder zitierten „knapp 60.000 Einwohnern“ angegangen werden. Die Ratsmehrheit aber nimmt diese, sich aufdrängenden  Notwendigkeiten leider aus dem Blick.

Abgelehnt wurden auch unsere BN-Vorschläge für Machbarkeitsstudien, etwa die für den vom Rat beschlossenen zweiten, barrierefreien Zugang zum Bahnhofsgleis 2, zur Verbesserung der Bahnverbindungen nach Westfalen und Osnabrück, der LiLi-Busse und die deutliche Verbesserung des Engagements für Europa. Zu allem Nein. Und unsere BN-Punkte zur Verbesserung des Fahrradverkehrs allesamt ebenso.

Mit diesen Nein gibt die Ratsmehrheit Entwicklungsmöglichkeiten aus der Hand, die für unsere Stadt wichtig sind. Unlängst hat der OB gradezu vorwurfsvoll an unsere BN-Adresse formuliert, man brauche für eine Verbesserung des Zugverkehrs „viel mehr Zeit“. Das habe er jetzt in Münster bei Gesprächen um besseren Nahverkehr gesehen. Seine Aussage war erkennbar keine Selbstkritik, weil er der Verbesserung keine Priorität eingeräumt hatte und einräumt. Er kritisierte stattdessen uns, die wir auf die offenkundigen Defizite hinweisen. Bei so viel achselzuckender Resignation  schlagen wir demOBein Praktikum bei seinem Nordhorner Amtskollegen vor. Der zeigt nämlich, wie es mit dem Zugverkehr so gehen kann, und dass man sich mit dem IST-Zustand nicht abfinden darf. Um ihn zu ändern und zu verbessern, muss nämlich irgendwann anfangen. Endlich anfangen.Alles andere ist Stillstand und Stillstand ist, worauf der Ratskollege Hermann Gebbelen (CDU) oft hinweist, schlecht.

Wie die Verbesserung bei der Bahn in Ost/West-Richtung zeigt, ist das natürlich völlig falsch. Wenn der Zugverkehr aus den Niederlanden Richtung Berlin schneller wird, werden das Emsland und auch unsere Stadt einmal mehr abgehängt, gnadenlos abgehängt und zwar deshalb, weil es keine Vorschläge gibt und weil Sie und der OB solche auch nicht einmal entwickeln lassen wollen. 

Die Menschen in Lingen brauchen jedenfalls die Änderungen im Verkehrswesen, zumindest schon aus Klimagründen.  Apropos Klima: Dazu enthält der Etat 2023 fast nichts. Auch der Hinweis des Kollegen Gebbeken, auf der EmslandArena würden nun Photovoltaik installiert, bestätigt dies. Es ist ein Investment der Stadtwerke, nicht der Stadt.

Der Weltklimarat hat in dieser Woche unterstrichen, dass es nicht mehr 5 vor 12, sondern später ist. Der OB ernennt uns zwar gerade zur Wasserstoffhauptstadt. Das aber machen ganz viele andere Städte auch. Googlen Sie mal Wasserstoff und Hauptstadt. Wasserstoff ist zu begrüßen, aber es reicht nicht aus. Dabei opfern wir gleichzeitig Klimaziele oder einfach auch wichtige Ressourcen., zum Beispiel unsere Bäume. Reihenweise fallen sie wegen ihres wichtigsten Attributs, der Beschattung,  zum Opfer. Wie jüngst am Christophoruswerk. Auch das standen sie auf privatem Grund und wir als Stadt verhinderten die Fällarbeiten einfach nicht, weil sie angeblich die PV-Anlage beschatteten. Damit sägen wir mit. Wohin führt das? Wann entschließen wir uns zu effektiven Schutzmaßnahmen? Wie lange lassen wir das Fällen der Bäume zu, weil sie vermeintlich im Weg stehen. Welch doppelte Moral!

6. Zum Abschluss noch dies: Ich bedanke mich beim OB für eine gewonnene Flasche Wein. Sie, Herr OB hatten nämlich im vergangenen Jahr informell meinen Fraktionskollegen erklärt, die BN habe in 2022 „viel zu viel“ gefordert. Nur deshalb seien alle Punkte abgelehnt worden. Wenn sich die BN aber  auf „10-12 gute Vorschläge“ beschränke, werde das völlig  anders aussehen. Dann werde die Ratsmehrheit den Vorschlägen zustimmen. Da habe ich sehr geschmunzelt, als ich das hörte, und dann um eine Flasche guten Spätburgunder gewettet, dass das Nein der Ratsmehrheit genau so bliebe, auch wenn wir unsere Vorschläge auf 10-12 beschränkten,

Was soll ich sagen, ich habe recht behalten. 12 BN-Vorschläge und 9 mal Nein. Sie sagen nämlich immer Nein und das nur deshalb, weil die Vorschläge von der BN kommen.

7. Was wir daraus heute schlussfolgern, ist damit klar:  

Diesem Etatwerk können wir nicht zustimmen. Dafür ist er nicht gut genug. Nicht ansatzweise. Wir lehnen den Beschlussvorschlag daher ab. „

Spoiler:
Zu unserem Antrag Gesundheitsstab meinte übrigens FDP-Mann Jens Beeck, dass die gesundheitliche Versorgung in Lingen so gut sei, wie nirgendwo anders in der Region „und in Niedersachsen“. Er lobte sie damit über den grünen Klee. Wird das die Menschen freuen und überzeugen, die Probleme mit ihrer Gesundheitsversorgung haben?


Links zum Etat der Stadt Lingen (Ems) 2023:

– Haushalt 2023: Haushalt 2023: – Teil 1 (Haushaltssatzung, Vorbericht, Haushaltsvermerke, Ergebnis- und Finanzhaushalt, Teilhaushalte, Stellenplan)
– Teil 2 (Anlagen)

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Der Beitrag ist ein Crossposting von bnlingen.de

Nicht anlasslos

21. September 2022

Die Verbindungs- und Standortdaten der Kommunikation dürfen nicht anlasslos weggespeichert werden – ein Sieg für die Grundrechte. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Vorratsdatenspeicherung sollte aber auch Anlass sein, über die inhärenten Gefahren von massenhaften Datenhalden nachzudenken. Ein Kommentar von Constanze Kurz (netzpolitik.org)

symbolbild ueberwachung
Durchdigitalisiert. (Symbolbild) Vereinfachte Pixabay Lizenz Gerd Altmann

Die Idee war von jeher monströs: das Kommunikationsverhalten der gesamten Bevölkerung wegzuspeichern, um in Kriminalfällen mit diesen Daten ermitteln zu können. Das höchste Gericht Europas hat die Rechtswidrigkeit der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung nun erneut festgestellt. Das Urteil ist ein klarer Sieg für die Grundrechte. Aber dass es so viele Jahre, mehrere höchstrichterliche Urteile, massive Proteste und einen wirklich langen juristischen Atem gebraucht hat, um die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland vorerst zu begraben, ist fatal. Denn es ist ein Zeichen dafür, dass ein Teil der politischen Parteien den Kompass in Fragen massenhafter Überwachung verloren hat. Es sind die drei ehemaligen Volksparteien CDU, CSU und SPD, die über Jahre hinweg die anlasslose Vorratsdatenspeicherung protegiert haben.

Wider besseren Wissens hatten sie 2015 eine Neuauflage der Vorratsdatenspeicherung beschlossen. Es war nur ein Jahr, nachdem der Europäische Gerichtshof die EU-Richtlinie zur anlasslosen Datenspeicherung gekippt hatte. Dass eine solche Speicherung rechtlich nicht mit den Werten der EU vereinbar ist, war schon damals klar. Die Große Koalition hat sich aber entschieden, das zu ignorieren.

Der Justizminister muss Wort halten

Rechtlich ist die anlasslose Vorratsdatenspeicherung schon länger begraben. Nun muss die massenhafte Speicherung der Telekommunikationsdaten auch politisch beerdigt werden. Nach Ende der Merkel-Ära ist die Chance dafür nun gegeben. Der liberale Bundesjustizminister Marco Buschmann kündigte unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Urteils bereits an, die Vorratsdatenspeicherung „endgültig“ aus dem Gesetz zu streichen. Dieses Wort muss er halten.

Doch das Urteil sollte Anlass sein, auch andernorts das milliardenfache Horten von Daten zu hinterfragen. Denn dass sich aus Vorratsdaten aussagekräftige Profile errechnen lassen, ist unumstritten. Das ist aber längst nicht auf Telekommunikationsdaten beschränkt: Detaillierte Bewegungs- oder Sozialprofile lassen sich aus anderen massenhaften Informationshäppchen gewinnen. Beispiele dafür liegen auf der Hand: etwa die kürzlich als rechtswidrig gebrandmarkte Vorratsdatenspeicherung der Passagierdaten oder die zwangsweisen massenhaften Biometrie-Sammlungen. Auch aus ihnen und weiteren Datensammlungen können aussagekräftige Profile und Zusatzinformationen über Personen hervorgehen.

Und nicht zuletzt muss erneut darauf hingewiesen werden: Abgespeicherte Massendaten sind immer auch ein inhärentes Sicherheitsproblem. Denn wir leben nicht nur in einer Zeit, in der einigen Politikern offenbar der Sinn dafür fehlt, dass wegen der allseitigen Digitalisierung die anfallenden Daten nicht etwa zu ihrer freien Verfügung stehen, sondern auch in einer Zeit einer strukturellen IT-Sicherheitskrise. Jeden einzelnen Tag können wir nachlesen, wo wieder diese und jene Sicherheitslücken entdeckt wurden oder wo massenhaft Daten abflossen. Es ist so häufig geworden, dass selbst bei Millionen Betroffenen kaum mehr ein Hahn danach kräht. So sind solche Datenhalden wie bei der Vorratsdatenspeicherung eben auch ein Sicherheitsrisiko. Schon deswegen sollte man sich von der Idee des massenhaften Wegspeichern ohne Anlass tunlichst verabschieden.


Ein netzpolitk.org-Beitrag Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

(EuGH, Urt. v. 20.09.2022, Rs. C-793/19, C-794/19 u.a., juris)

Hässlicher Wahlkampf

26. August 2022

„Am 9. Oktober wählen die Niedersachsen ihren neuen Landtag. Die CDU fischt für ihre Wahlkampagne ziemlich weit am rechten Ufer. Von Cuxhaven bis Hannoversch Münden liest man auf CDU Plakaten: „Null Toleranz für Clans“. Mit ihrem hellblauem Hintergrund unterscheiden sich die Plakate der CDU kaum von früheren Wahlkampagnen der AfD.

„Weltoffen. Aber nicht für Banden und Clans!“ ist ein Slogan, der 2020 noch auf den Wahlplakaten der Hamburger AfD im Kampf um Stimmen für die Hamburger Bürgerschaft stand. Heute sind die CDU-Plakate denen zum Verwechseln ähnlich.

Der Koalitionspartner SPD kritisiert die Kampagne der CDU: Kriminalitätsphänomene wie „Drogenhandel, Cybercrime, Sexualisierte Gewalt gegen Kinder oder der Rechtsextremismus“beeinflussten das Sicherheitsgefühl der Niedersachsen heute viel mehr, meint Ulrich Watermann, innenpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion.

Tatsächlich könne man nur 0,6 Prozent aller dokumentierten Straftaten in Niedersachsen auf „Clankriminalität“ zurückführen. Deshalb empfinde die SPD Niedersachsen die Fokussierung der CDU auf diese Thematik als „kritisch“. Und dann sei die CDU mit dieser Kampagne auch noch weit hinter der Zeit. „Die von der CDU plakatierte Forderung ist mindestens seit 2018 in Niedersachsen bereits Realität, sagt Ulrich Waterman von der SPD.

Die…“

[weiter bei der taz]

Mehrheitsklau

16. September 2021

Am vergangenen Sonntag hat die CDU in unserer Stadt ihre, in schwarzen Beton gegossene Mehrheit verloren. Das erste Mal seit Jahrzehnten. Sie erhielt 48,2 % der Wählerstimmen und insgesamt 20 Sitze im Rat. Die bisherigen Minderheitsfraktionen kommen zusammen auf 21 Mandate, die neue Freie Wählergemeinschaft Lingen hat den 22. Sitz errungen. Der 43köpfige Stadtrat wird schließlich mit dem Oberbürgermeister komplettiert.

Würde es nach dem bisherigen Kommunalverfassungsrecht gehen, würden sich die neuen Mehrheitsverhältnisse auch in den Ratsgremien widerspiegeln. In den meist mit 11 Ratsmitgliedern tagenden Ratsausschüsse hätten sechs Mitglieder der bisherigen Minderheitsfraktionen Sitz und Stimme, fünf entfielen jeweils auf die CDU. Im wichtigen Verwaltungsausschuss („VA“) gäbe es einen Gleichstand von 5:5 Stimmen und der Oberbürgermeister hätte dort die entscheidende, 11. Stimme.

Dieses bisherige System zur Verteilung der Aussschusssitze haben der Londoner Rechtsanwalt Thomas Hare (1806-1891) und der deutschen Mathematiker Horst Niemeyer (*1931) entwickelt. „Hare-Niemeyer“ wird seit den 1980er Jahren fast überall in der Bundesrepublik angewendet, auch in Niedersachsen.

Doch jetzt will es die niedersächsische SPD-CDU-Koalition in Hannover durch das d’Hondt-System ersetzen. Das vom belgischen Juristen Victor D’Hondt ersonnene Verfahren begünstigt große Parteien und benachteiligt die kleinen sowie die meist nicht sonderlich starken Wählergemeinschaften.

Die Niedersächsischen Regierungsparteien SPD und CDU  versprechen sich davon eigene Vorteile. Pikanterweise beschließt die Landtagsmehrheit das neue Gesetz zur Sitzverteilung erst nach der Kommunalwahl. Es passt ihnen gut, dadurch ihre Stimmenverluste auszugleichen.

So auch in Lingen: Durch das neue System zur Besetzung der Ausschüsse bekommt die Lingener CDU plötzlich wieder die Mehrheit. In allen 11er-Ausschüssen bekommt sie beispielsweise sechs Sitze und die andern fünf, auch im VA. Mit dem bisherigen Hare-Niemeyer-System zur Sitzverteilung hätte die CDU fünf Sitze, die neue Mehrheit hätte sechs. Die werte Leserschaft kann hier gern nachrechnen.

Den bisherigen Minderheits- und neuen Mehrheitsfraktionen wird die hart erkämpfte neue Mehrheit also regelrecht geklaut. Das wird sicherlich auch in vielen anderen niedersächsischen Gemeinden so sein. Das alles geschieht aktuell hier bei uns in Niedersachsen – nicht in Weißrussland. Seltsam, dass ausgerechnet die SPD bei diesem Taschenspielertrick mitmacht.

Kurt Schumacher, unumstrittene Führungsfigur der Nachkriegs-SPD, wurde heute vor 125 Jahren in Culm (heute das polnische Chełmno) geboren. Nach dem Verbot in der NS-Diktatur baut er die SPD ab 1945 von Hannover aus neu auf.

Altbauten, Kopfsteinpflaster und das Ihme-Zentrum gleich um die Ecke. Die Jacobsstraße in Hannover-Linden ist eine Straße wie so viele in dem Viertel im Westen der Stadt. Und doch hat sich hier Historisches abgespielt. Kurt Schumacher, Ikone der SPD, hat von hier aus die Neugründung der Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg vorangetrieben. Am 13. Oktober wäre er 125 Jahre alt geworden.

Geboren wird Kurt, der ursprünglich Curt geschrieben wird, im westpreußischen Culm (Chełmno). 1914 meldet er sich freiwillig für den Ersten Weltkrieg – an der Ostfront verliert er seinen rechten Arm. Zum Jurastudium geht er nach Halle und Leipzig, anschließend verschlägt es ihn nach Württemberg. Dort, in Stuttgart, arbeitet er als Redakteur für eine SPD-Zeitung. Bereits seit 1918 ist er Mitglied der Partei, ab 1924 sitzt er auch im Landtag.

Mit nicht einmal 35 Jahren wird er 1930 für die SPD in den Reichstag gewählt. Doch knapp drei Jahre später wird der Mandatsträger zum Verfolgten im NS-Regime. Die SPD wird verboten und Schumacher, einer der Co-Autoren von Otto Wels‘ berühmter Rede gegen das sogenannte Ermächtigungsgesetz, zum steckbrieflich gesuchten Staatsfeind. Im Juli 1933 wird Schumacher in Berlin festgenommen. Es beginnt eine zehnjährige Odyssee durch Konzentrationslager des „Dritten Reiches“: Erst Heuberg und Oberer Kuhberg (heute beides Baden-Württemberg), es folgen Dachau und Flossenbürg (heute beides Bayern).

Eine zwischenzeitliche Entlassung ist nur von kurzer Dauer. Denn nach dem gescheiterten Anschlag auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 rächen sich die Nazis systematisch an alten Widersachern – auch an solchen, die gar nicht am Attentat beteiligt waren wie Schumacher. Die „Aktion Gitter“ beginnt und er wird erneut verhaftet und muss weitere Haftzeiten im KZ Neuengamme und der Außenstelle in Hannover-Ahlem überstehen. Die endgültige Befreiung kommt erst, als US-amerikanische Truppen am 10. April 1945 in Hannover einmarschieren.

Schumacher bleibt in Hannover und beginnt von dort aus unverzüglich mit der Aufbauarbeit der SPD. Nicht einmal einen Monat nach der Ankunft der Alliierten wird er Leiter des Büros Schumacher“ und Parteichef der Stadt. Und dass, obwohl Parteien in den Besatzungszonen zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht erlaubt sind. Etwa ein halbes Jahr später folgt die Wennigser Konferenz vor den Toren Hannovers. Hier wird die SPD im Oktober 1945 offiziell aus der Taufe gehoben – zum zweiten Mal in ihrer Geschichte.

33 Delegierte aus zehn Bezirken sind angereist. Am Ende setzt sich Schumacher mit seiner Linie gegen die Gruppe um Otto Grotewohl, den späteren Ministerpräsidenten der DDR, durch. Die Quintessenz: Keine Kooperation mit der KPD, wie Grotewohl sie befürwortet. An dem Mann aus Culm führt jetzt kein Weg mehr vorbei. Im Mai 1946 wird er zum Parteivorsitzenden gewählt, sein Büro inHannover- Linden zur inoffiziellen Parteizentrale. Schumacher ist das unangefochtene Alphatier in der SPD. Und das…

[weiter beim NDR]

„Das Ende selber macht mir keine Angst. Da spielt wohl auch eine gewisse Rolle, ob man mit sich einigermaßen im Reinen ist.“

Heute ist im Alter von 94 Jahren der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel gestorben. Ich durfte den ehemaligen Oberbürgermeister von München, später Berlin, Bundesminister, SPD-Fraktionsvorsitzender, Parteichef und Kanzlerkandidaten bei seinen Besuchen in Lingen kennenlernen und erinnere mich auch gern an Erzählungen von Gerhard Schröder über die Sitzungen des SPD-Parteivorstandes mit den berühmten Vogel’schen Klarsichthüllen, in dem er zu jedem Thema als Notwendige dabei hatte.

Viel später hat die Frankfurter Rundschau den Verstorbenen und seine Ehefrau dann interviewt. Das Gespräch mit dem Menschen Hans-Jochen Vogel gefällt mir. Lest bitte nach, es lohnt sich.


(Foto: Hans-Jochen Vogel auf dem SPD-Parteitag in Münster, 1988; Bundesarchiv, B 145 Bild-F079283-0010 / Engelbert Reineke / CC-BY-SA 3.0)

Netzpolitik.org veröffentlicht den Gesetzentwurf, mit dem alle Geheimdienste Staatstrojaner bekommen werden.

Die deutschen Geheimdienste werden dann Geräte mit Staatstrojanern hacken, um Kommunikation abzuhören. Das steht im Gesetzentwurf zum Verfassungsschutzrecht, den Netzpolitik.org am Donnerstag veröffentlichte. In Bundesregierung und SPD gab es lange Diskussionen, jetzt steht dem Gesetz offenbar nichts mehr im Weg.

 

Moderne IT-Geräte sind ausgelagerte Gehirne: Smartphones und Co. wissen mehr über uns als wir selbst. Bald dürfen alle deutschen Geheimdienste diese Geräte hacken und mit Trojanern infizieren.

Letztes Jahr hat das Innenministerium einen Gesetzentwurf erarbeitet, der dem Verfassungsschutz Staatstrojaner geben soll. Darüber haben Justiz- und Innenministerium lange verhandelt. Vor zwei Wochen haben sich Innenminister Seehofer und Justizministerin Lambrecht geeinigt: Der Geheimdienst bekommt den Staatstrojaner „Quellen-Telekommunikationsüberwachung“.

Am Wochenende wurde der fertige Gesetzentwurf an die Bundesländer verschickt. Wir veröffentlichen den Entwurf in Volltext: Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts.

Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis

Der Regierungsentwurf ändert nicht nur das Gesetz für den Bundesverfassungsschutz, sondern ganze sechs Gesetze und eine Verordnung. Die Erlaubnis für den Staatstrojaner wird im Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses geregelt. Und das gilt für alle Geheimdienste.

Das bedeutet, dass nicht nur das Bundesamt für Verfassungsschutz den Trojaner bekommt, sondern auch alle 16 Inlandsgeheimdienste der Bundesländer, der Auslandsgeheimdienst BND und der Militärgeheimdienst MAD.

Eingeführt wurde der Staatstrojaner 2009, ursprünglich nur für das Bundeskriminalamt, nur gegen internationalen Terrorismus und nur zur Prävention von Terroranschlägen. Vor drei Jahren hat die Große Koalition den Einsatz zum ersten Mal ausgeweitet und allen Polizeibehörden den Einsatz bei sämtlichen schweren Straftaten erlaubt. Jetzt folgt der nächste Schritt: Die Ausweitung auf die Geheimdienste.

Kleiner und großer Trojaner

Mit Staatstrojanern dringen Behörden heimlich in IT-Geräte ein. Diese Infiltration ist ein Eingriff in das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität von IT-Systemen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Einsatz dieser intensiven Überwachungsmethode enge Grenzen auferlegt.

Also wurde eine juristische Trennung erfunden: Bei einer „Online-Durchsuchung“ können staatliche Hacker sämtliche Daten auf dem Zielgerät abgreifen. Die „Quellen-Telekommunikationsüberwachung“ soll sich auf laufende Telekommunikation beschränken, etwa Telefonate oder Nachrichten. Diese Unterscheidung ist jedoch künstlich, technisch ist das nicht zu gewährleisten.

Ob kleiner oder großer Trojaner, beide haben gefährliche Nebenwirkungen: Um hacken zu können, lässt der Staat Sicherheitslücken offen, statt sie zu schließen. Das schadet der inneren Sicherheit. Dabei gibt es genug andere Überwachungsmöglichkeiten, Verschlüsselung macht den Staat nicht blind.

Polizei und Geheimdienst

All diese Probleme existieren schon beim Staatstrojaner-Einsatz durch die Polizei. Doch wenn Polizeibehörden Staatstrojaner einsetzen, wird das immerhin noch durch eine:n Richter:in abgesegnet – auch wenn diese Anträge fast nie abgelehnt werden. Zudem wird die Polizei von Parlamenten und anderen Aufsichtsbehörden kontrolliert.

Geheimdienste hingegen arbeiten im Geheimen – und sind damit notorisch schlecht kontrollierbar. Immer wieder gibt es Skandale und Affären, immer wieder erfahren sogar die offiziellen Kontrollgremien von Skandalen erst aus den Medien.

Vor nicht einmal einem Monat hat das Bundesverfassungsgericht weite Teile der Überwachungspraxis des Bundesnachrichtendiensts als verfassungswidrig eingestuft. Weil das BND-Gesetz deshalb ohnehin neu geschrieben werden muss, wurden fast alle geplanten Änderungen des BND-Gesetzes aus dem aktuellen Gesetzentwurf entfernt. Diese Teile dürften im kommenden BND-Gesetz aufgenommen werden.

Dass nicht nur der Verfassungsschutz, sondern auch der BND jetzt den Staatstrojaner bekommt, irritiert Linus Neumann vom Chaos Computer Club: „Gerade erst wurde das BND-Gesetz in Karlsruhe kassiert, schon versucht die Regierung mit einen Hütchenspielertrick, die BND-Befugnisse weiter auszubauen.“

SPD dagegen und dafür

Brisant ist die Rolle der SPD. Die Netzpolitikerin Saskia Esken hat vor drei Jahren gegen Staatstrojaner für die Polizei gestimmt und das ausführlich begründet: „Bei dem Gesetz handelt es sich um sehr weitgehende Eingriffe in Grundrechte. Das Gesetz hält sich nicht an Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Der Staat hat nun ein Interesse, Bürger nicht vor Sicherheitslücken zu warnen.“

Als wir letztes Jahr den ersten Entwurf des aktuellen Gesetzes veröffentlichten, lehnte Esken den Staatstrojaner für den Verfassungsschutz ab. Mittlerweile ist Esken Bundesvorsitzende der SPD und damit die mächtigste Netzpolitikerin der Bundesrepublik: Wenn jemand den Staatstrojaner für die Geheimdienste stoppen kann, dann sie.

Doch wie es aussieht, ist der Kompromiss von Justizministerin Lambrecht mit dem SPD-Parteivorstand abgesprochen. Auf Anfrage von netzpolitik.org kommentiert Saskia Esken: „Grundsätzlich habe ich mich auf der Basis des Koalitionsvertrags einer eng begrenzten Regelung, wie sie der Minister in der Öffentlichkeit als Kompromissformel dargestellt hat, nicht in den Weg gestellt.“

Vor drei Jahren haben nur zwei von 193 Abgeordneten der SPD gegen Staatstrojaner für die Polizei gestimmt, darunter Saskia Esken. Der Rest der SPD-Fraktion war für die Ausweitung des staatlichen Hackens. Damit ist unwahrscheinlich, dass der Staatstrojaner für die Geheimdienste im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch verhindert wird.


Ein Beitrag von  auf netzpolitik.org / Creative Commons BY-NC-SA 4.0.
Foto Geheimdienst-Spion. (Symbolbild) Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Chris Grafton

Es geht um „bitte“, weil…: Also in diesen Corona-Zeiten muss alles klar und genau usw. sein. Dafür streitet die SPD Lingen. Sie hat deshalb einen Klarheitsantrag für die erste Ratssitzung nach einem Vierteljahr eingebracht. Darin schreibt sie an „/lieber Dieter“, also den OB:

„Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister / lieber Dieter,
die SPD im Rat der Stadt Lingen (Ems) beantragt, folgenden Punkt auf die Tagesordnung der nächsten Ratssitzung zu setzen:
Klarheit bei Hinweisen auf Verpflichtungen und Verbote aufgrund von COVID-19
1. Bei Hinweisen und Verboten hinsichtlich aufgrund der COVID-19-Pandemie ist deutlich in klarer Sprache hervorzuheben, ob es sich um eine Empfehlung (Hinweis) oder eine Verpflichtung / ein Verbot handelt.
2. Es ist darauf hinzuweisen, auf welcher konkreten gesetzlichen Grundlage die jeweiligen Verpflichtungen / Verbote beruhen.
3. Sofern ein Verstoß gegen eine Verpflichtung / gegen ein Verbot mit einer Strafe geahnt werden kann, ist darauf ebenfalls hinzuweisen.
4. Der Bereich für den eine Verpflichtung / ein Verbot gilt, ist kenntlich zu machen, indem der Bereich dementsprechend markiert oder abgesperrt wird (sofern möglich).
Begründung:
Die Begründung erfolgt mündlich auf der Ratssitzung.
Mit freundlichen Grüßen i. V. Andreas Kröger“

„Auf“ der Verwaltungsausschusssitzung am vergangenen Mittwoch erklärten die SPD-Vertreter ihre Initiative mit den höflichen Warnbaken-Schilder, die seit zwei Wochen an den Eingängen zum Wochenmarkt stehen. An jeder rot-weißen Bake ist ein laminiertes Schild angeklebt. Oben steht Maskenpflicht! Dann folgt die Bitte mitsamt Erklärung.  Bis Dienstag sah das so aus wie oben, und es war freundlich, höflich und effektiv zugleich.

Dann aber kam der Klarheits-Antrag der SPD. Die Sozis wollen das „Bitte“ nicht. Sie wollen die DEUTLICHE KLARE SPRACHE. Als ob „bitte“ nicht deutlich ist und als ob man die Lingener*innen nicht mit dem B-Wort auf eine bestehende Pflicht hinweisen kann – zumal wenn das Wort Maskenpflicht drüber steht.

Ich finde: Man hätte besser das „Gesetz- und Verordnungsblatt des Landes Niedersachsen“ aufhängen sollen. Darin gibt die niedersächsische Sozialministerin Carola Reimann (SPD) die Dinge in aller sozialdemokratischen Klarheit und bisweilen gar grammatikalisch kreativ so vor:

„§ 3 Ausdrücklich zulässige Verhaltensweisen
Unter den Voraussetzungen des § 2 zulässig sind insbesondere die nachfolgend genannten Verhaltensweisen:
…7. unter den Anforderungen der §§ 8 und 9 die Versorgung in Verkaufsstellen und Geschäften einschließlich Wochenmärkten und Abhol- und Lieferdiensten sowie die Inanspruchnahme von Leistungen in Poststellen, Banken, Sparkassen, an Geldautomaten, in Kraftfahrzeug- oder Fahrrad-Werkstätten, Reinigungen und Waschsalons (Dienstleistungseinrichtungen);…

§ 8 Schutzmaßnahmen
(1) 1Die Betreiberinnen und Betreiber von Verkaufsstellen, Geschäften sowie Dienstleistungseinrichtungen im Sinne des § 3 Nr. 7 sind verpflichtet, einen Abstand von mindestens 1,5 Metern zwischen den Kundinnen und Kunden sicherzustellen. 2Sie haben sicherzustellen, dass sich nur so viele Kundinnen und Kunden in den Verkaufsräumen befinden, dass durchschnittlich 10 Quadratmeter Verkaufsfläche je anwesende Person gewährleistet sind. 3Die Berechnung der Verkaufsfläche richtet sich nach der Baunutzungsverordnung. 4Die Betreiberinnen und Betreiber haben Vorkehrungen zu treffen, die den Zutritt zu den Verkaufsflächen steuern, Warteschlangen vermeiden und Anforderungen der Hygiene gewährleisten.
(2) 1In Einkaufscentern und Outletcentern haben deren Betreiberinnen und Betreiber Vorkehrungen zu treffen, um zur Einhaltung der Vorgaben des Absatzes 1 Satz 2 den Zutritt an den Haupteingängen zu steuern. 2Sie haben ferner Vorkehrungen zu treffen, dass es auf den Verkehrsflächen nicht zu Ansammlungen kommt, bei denen der Mindestabstand von 1,5 Metern zu anderen Personen nicht eingehalten wird. 3In Einkaufscentern dürfen keine Getränke und Speisen zum Verzehr vor Ort angeboten werden. 4Die Verpflichtungen der Betreiberinnen und Betreiber der Verkaufsstellen nach Absatz 1 bleiben unberührt.

§ 9 Mund-Nasen-Bedeckung
(1) 1Besucherinnen, Besucher, Kundinnen und Kunden von Verkaufsstellen, Geschäften und Dienstleistungseinrichtungen im Sinne des § 3 Nr. 7, ausgenommen Banken, Sparkassen und Geldautomaten, und den nachfolgend genannten Einrichtungen des Personenverkehrs sowie Personen, die als Flug- oder Fahrgast ein Verkehrsmittel des Personenverkehrs und die hierzu gehörenden Einrichtungen nutzen, sind verpflichtet, eine  Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. 2Private Personenkraftwagen sowie private und gewerbliche Lastkraftwagen sind keine Verkehrsmittel des Personenverkehrs im Sinne des Satzes 1.
(2) Eine Mund-Nasen-Bedeckung im Sinne des Absatzes 1 ist insbesondere jede textile Barriere, die aufgrund ihrer Beschaffenheit geeignet ist, eine Ausbreitung von übertragungsfähigen Tröpfchenpartikeln durch Husten, Niesen und Aussprache zu verringern, unabhängig von einer Kennzeichnung oder zertifizierten Schutzkategorie; geeignet sind auch Schals, Tücher, Buffs, aus Baumwolle oder anderem geeignetem Material selbst hergestellte Masken oder Ähnliches.
(3) Personen, für die aufgrund einer Behinderung oder von Vorerkrankungen, zum Beispiel schwere Herz- oder Lungenerkrankungen, wegen des höheren Atemwiderstands das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung nicht zumutbar ist, sind von der Verpflichtung nach Absatz 1 Satz 1 ausgenommen.
(4) Von der Verpflichtung nach Absatz 1 Satz 1 sind Kinder bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres ausgenommen.

und natürlich gehört noch dies dazu

§ 12 Ordnungswidrigkeiten
(1) Verstöße gegen die §§ 1 bis 2 h und 5 bis 10 b stellen Ordnungswidrigkeiten nach § 73 Abs. 1 a Nr. 24 IfSG dar und werden mit Bußgeldern bis zu 25 000 Euro geahndet.
(2) Die nach dem Infektionsschutzgesetz zuständigen Behörden und die Polizei sind gehalten, die Bestimmungen dieser Verordnung durchzusetzen und Verstöße zu ahnden.

und unten drunter als Quelle:
Niedersächsische Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie
Vom 8. Mai 2020 aufgrund des § 32 Satz 1 in Verbindung mit den §§ 28, 29 und 30 Abs. 1 Satz 2 des Infektionsschutzgesetzes vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), zuletzt geändert durch Artikel 3 des Gesetzes vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587), in Verbindung mit § 3 Nr. 1 der Subdelegationsverordnung vom 9. Dezember 2011 (Nds. GVBl. S. 487), zuletzt geändert durch Verordnung vom 17. März 2017 (Nds. GVBl. S. 65) (Nds. GVBl. S. 97)

Ich bin überzeugt, so ein wunderbarer, deutlich in klarer Sprache geschriebener, fast schon literarischer („Subdelegationsverordnung“…!!) Verordnungstext muss einfach in seiner germanistisch-treibenden Stärke an die Lingener Wochenmarkt-Warnbaken, so wie weiland Martin Luther auch seine 95Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg nagelte. Die Reimannsche Verordnung, so finde ich, drucken wir in Lingen deshalb in langen Textreihen auf einen zu laminierenden Zettel, den OB „/lieber Dieter“ dann persönlich an jeder Warnbake festmacht. Das höfliche Bitte ist damit geradezu würdevoll ersetzt.

Im Vorgriff auf diese Idee handelte auch unsere engagierte Stadtverwaltung und griff sofort nach Eingang der SPD-Antragsposse zum behördeeigenen Edding und kritzelte dienstbeflissen bei jedem einzelnen Aushang das höfliche „Bitte“ weg.  Jetzt sehen wir „deutlich und in klarer Sprache“ dies: 

Nein, das Kaufrecht des BGB muss nicht auf eine Warnbake vor jedes Einzelhandelsgeschäft. Ansonsten wünsche ich ein schönes Wochenende!


ps In einer früheren Version dieses Beitrags waren von 99 Thesen die Rede, die Martin Luther an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt habe. Fachleute haben natürlich sofort erkannt, dass der Reformator an der Tür nur 95 Thesen befestigte.

Mehr Frauen

12. Januar 2020

Um die Frauenquote im Niedersächsischen Landtag künftig­ zu erhöhen, hat die SPD Vorschläge für eine Wahlrechtsreform vorgelegt. Eine Anfang 2019 aus Vorstands- und Fraktionsmitgliedern gegründete Arbeitsgruppe der Landespartei, geleitet von der Landtagsabgeordneten und stellvertretenden SPD-Landesvorsitzenden Petra Tiemann, stellte am Dienstag drei Modelle vor, die nun innerparteilich und mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen diskutiert werden sollen.

Der Frauenanteil im Niedersächsischen Landtag mit seinen insgesamt 137 Abgeordneten beträgt derzeit nur knapp 30 Prozent. Gründe dafür liegen in der Besetzung der Landeslisten, aber auch in der Vergabe der Direktmandate, für die in der Regel mehr Männer als Frauen aufgestellt werden. Gerade bei SPD und CDU, die klassischerweise bei Wahlen viele Direktmandate gewinnen, ist die Frauenquote also dementsprechend niedrig.

Hier setzen die jetzt vorgelegten Vorschläge der SPD an. Es gibt das „Paritätische Wahlkreismodell“ und das „Ausgleichsmodell“. Das „Paritätische Wahlkreismodell“ sieht eine Reduzierung der Wahlkreise in Niedersachsen von 87 auf 50 vor. In diesen Wahlkreisen sollten dann, so die Idee, zwei Direktmandate, jeweils an eine Frau und einen Mann, vergeben werden.

Dann splittet sich…

[weiter bei der taz]

Die taz sieht gleichzeitig („leider“) keine Chance für eine Reform – wegen der CDU: „Dank der CDU wird das Land in dieser Legislaturperiode wohl nicht mehr mit Brandenburg und Thüringen gleichziehen. Vieles ist am Ende eben eine Frage des politischen Willens.“

Verfassungsfeinde

5. Januar 2020

Neues von den Verfassungsfeinden: „Bundesinnenminister Horst Seehofer [CSU] will die biometrische Videoüberwachung in Deutschland massiv ausbauen. Laut dem Nachrichtenmagazin SPIEGEL will er der Bundespolizei erlauben, Überwachungssysteme mit Gesichtserkennung an 135 deutschen Bahnhöfen und 14 Flughäfen zu installieren. Dagegen regt sich nun Widerspruch beim Koalitionspartner SPD. Die Partei führt das Justizministerium, dem der Gesetzentwurf dem Bericht zufolge nun zur Abstimmung vorliegt.

Auf Nachfrage unserer Redaktion reagierte an diesem Samstag die SPD-Vorsitzende Saskia Esken auf Seehofers Initiative mit deutlicher Kritik. Auf Twitter stellt sie klar:

Videoüberwachung mit Gesichtserkennung ist mE ein zu hoher Eingriff in die Freiheitsrechte. Die falsch positiven Fehlalarme schaden der Sicherheit mehr als die Überwachung ihr nutzt. Unschuldige Menschen geraten ins Visier.

Der Einsatz von Gesichtserkennungstechnologien ist hochgradig umstritten. Dabei geht es zum einen um die grundsätzliche Frage, ob es mit einer freiheitlichen Gesellschaft vereinbar ist, wenn sich Bürgerinnen und Bürger nicht mehr unerkannt und unbeobachtet im öffentlichen Raum bewegen können.

Zum anderen geht es um die hohe Fehleranfälligkeit der Systeme, also um die von Esken angesprochenen „False-Positives“. Jeder Fehlalarm kann dazu führen, dass eigentlich unverdächtige Personen überwacht, durchsucht und festgehalten werden, was für diese traumatisierend und stigmatisierend sein kann. Hinzu kommt eine rassistische Schieflage vieler Gesichtserkennungssysteme: Weil sie bei weißen Testpersonen eine geringere Fehlerquote als bei People of Color haben, wären letztere vom flächendeckenden Einsatz der Technologie besonders betroffen.

Test mit geschönten Zahlen als Ausgangslage

Seehofer setzt mit seiner Initiative eine Idee seines Amtsvorgängers Thomas de Maizière um. Am Berliner Bahnhof Südkreuz lief 2017 und 2018 ein groß angelegter Test von Bundespolizei, Bundeskriminalamt, Bundesinnenministerium und Deutscher Bahn mit Gesichtserkennungssystemen unterschiedlicher Hersteller. Während Seehofer die Ergebnisse des Pilotversuchs Ende 2018 als Erfolg verkaufte, kritisierte der Chaos Computer Club bewusste Schönfärberei und eine unwissenschaftliche Herangehensweise.

Konkret hatte Seehofer von einer durchschnittlichen Erkennungsquote von mehr als 80 Prozent gesprochen. Tatsächlich kam jedoch keines der drei gestesten Systeme auf diesen Wert. Diese „imaginäre“ Zahl, so die Kritik der CCC-Experten, sei nur dadurch erreicht worden, dass die Ergebnisse aller Systeme miteinander verrechnet wurden. Zudem sei jede 200. Person fälschlicherweise als „gesucht“ markiert worden. Bei zehntausenden Überprüfungen führe dies zu einer enormen Anzahl an Fehlalarmen.

Die anhaltende Kritik an der wissenschaftlichen Qualität des Test hatte den damaligen Innenminister Thomas de Maizière nicht davon abgehalten, noch vor dessen Abschluss zu verkünden, Videoüberwachung mit Gesichtserkennung flächendeckend einführen zu wollen.

Der nun geplante Ausbau der Videoüberwachung mit Gesichtserkennung entspricht genau dieser Ankündigung. Er ist laut Informationen des SPIEGEL Teil eines Gesetzes, mit dem Innenminister Seehofer die Kompetenzen der Bundespolizei erweitern will. Anders als bisher soll der ehemalige Bundesgrenzschschutz dann nicht nur an der Grenze, auf Flughäfen, in Bahnen und auf Bahnhöfen eingesetzt werden, sondern überall im Land tätig sein.

[SPON weiß: Zu den Plänen gehört … ein vorbeugender Gewahrsam, um die Ausreise gewaltbereiter Fußballfans oder Dschihadisten zu verhindern, sowie ein eigenes Zeugenschutzprogramm bei der Bekämpfung der Schleuserkriminalität.|

Laut SPIEGEL hat Seehofer den Gesetzentwurf kürzlich zur Ressortabstimmung an das Justizministerium übermittelt. Häufig setzt sich das Haus gegen derart weitreichende Grundrechtseingriffe zur Wehr. Die aktuelle Justizministerin, SPD-Politikerin Christine Lambrecht, war in den vergangenen Monaten jedoch selbst durch den all zu leichtfertigen Umgang mit Grundrechten aufgefallen.“


Foto Überwachungskameras Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Florian Olivio; Text von Ingo Dachwitz bei netzpolitik.org Creative Commons BY-NC-SA 4.0.