Die Debatte zur sogenannten Schuldenbremse nimmt Fahrt auf, und das ist bitter notwendig. Nicht wenige halten diese, so euphemistisch formulierte Maßnahme –ich zitiere Marcus Höfgen– für die dümmste aller Regeln, die aber 2009 mit Zweidrittelmehrheit von CDUCSUSPD ins Grundgesetz gegossen wurde. Der damalige SPD-Finanzminister Peer Steinbrück war übrigens seinerzeit die treibende Kraft für den Bund, Horst Seehofer für die Länder. Übrigens: Die FDP enthielt sich damals, weil ihr die Schuldenbremse für die Länder noch nicht streng genug war. Finanzpolitik für die FDP machte damals der heutige Verkehrsminister Volker Wissing.

In seiner Rede im Bundestag nannte Steinbrück die Schuldenbremse eine „finanzpolitische Entscheidung von historischer Tragweite“. Damit hat er jetzt Recht behalten.  Als Begründung für die Schuldenbremse sagte Steinbrück auch, dass Deutschland „in einem Schraubstock der Verschuldung“ stecke. „Der steigende Schuldenstand und die steigende Zinslastquote verkarsten den Bundeshaushalt zusammen“. Um die Zinsen zu senken, müsse Deutschland das Vertrauen der Finanzmärkte zurückgewinnen. Im Wortlaut, der auch so heute von Christian Lindner gesprochen wird, klang das so: „Wir müssen auch den Finanzmärkten ein Signal geben, dass in Deutschland eine solide Haushaltspolitik betrieben wird“.

Und jetzt haben wir den Salat: Denn das Bundesverfassungsgericht hat die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse auch noch ausgesprochen restriktiv ausgelegt. Daher fällt sie jetzt  unserem ganzen Land auf die Füße, und kluge Leute in der Politik wie anderswo suchen einen Ausweg. Schleswig-Holstein hat Donnerstag die haushaltspolitische Notlage beschlossen,  Ministerpräsidenten der CDU stellen die Bremse in ihrer konservativen Auslegung in Frage. Und Grüne, Gewerkschaften und Steinbrücks SPD sehen entsetzt, welchen Stillstand sie bedeutet. Tatsächlich macht es einen großen Unterschied, ob mit Schulden Umbau- und Infrastruktur-Investitionen für Jahrzehnte bezahlt werden oder bspw. nur die Fußball-EM im nächsten Jahr. Also muss diese Zukunftsbremse geändert werden.

Auch juristisch äußert sich Kritik. In einem Beitrag für den renommierten Verfassungsblog kritisieren jetzt der Jurist Lukas Märtin und der Wirtschaftswissenschaftler Carl Mühlbach die Gerichtsentscheidung als „Katalysator der Polykrise“, denn die verfassungsgerichtliche Überprüfung sei ein Hindernis für die politische Gestaltungskraft. Hier der Text, den ich mit einem  energischen „Lesebefehl!“ für diesen Novembersonntag schmücke:

„Am 15. November 2023 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zum ersten Mal über die Vorschriften der Schuldenbremse im Grundgesetz entschieden. Das Gericht erklärte das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 für unvereinbar mit dem Grundgesetz (GG) und daher nichtig. Das nun ergangene Urteil verdeutlicht erneut, dass die aktuelle Ausgestaltung des Staatsschuldenrechts in eine finanzrechtliche, vor allem aber finanzpolitische Sackgasse führt. So setzt sich im Urteil durch die restriktive Auslegung der Schuldenbremse die Entpolitisierung des parlamentarischen Haushalts- und Budgetrechts, die „Königsdisziplin des Parlaments“, fort. Daneben beschränkt das Urteil auf erhebliche Art und Weise die Handlungsfähigkeit des Staates und versetzt auch der Wehrhaftigkeit der Demokratie einen Dämpfer. Letztlich ist die Schuldenbremse, wie sie sich nun durch das Urteil darstellt, ein Todesstoß für politisches Denken in langfristigen Zusammenhängen – obgleich dieser Gedanke vom BVerfG erst vor zwei Jahren im sogenannten Klima-Beschluss prominent angebracht wurde.

Zwischen politischer und gerichtlicher Verantwortung

Die ersten Reaktionen in der Öffentlichkeit bewerten das Urteil teilweise als konsequente Ausbuchstabierung der Idee, die der Schuldenbremse zugrunde liegt. Andererseits wird auch das Potenzial des Urteils hervorgehoben, politische Dynamiken für eine Verfassungsänderung anzuschieben. Beiden Ansichten liegt die Annahme zugrunde, dass die Verfassungswidrigkeit des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes, beschlossen im Februar 2022 mit rückwirkender Geltung ab dem 1. Januar 2021, von vornherein klar gewesen ist und dass das Gericht faktisch gezwungen war, den Fall so zu entscheiden und zu begründen, wie es dies nun getan hat. Demnach läge die vollständige Verantwortung für die faktischen Konsequenzen, die sich aus dem Urteil ergeben, beim Verfassungsgeber – und damit der Politik.

Dies ist schon deswegen abwegig, weil – wie [Verfassungsrichterin] Doris König bei der Urteilsverkündung selbst sagte – das Gericht terra incognita betrat, als es nun zum ersten Mal die Vorschriften der Schuldenbremse, insbesondere Art. 109 und 115 GG interpretierte. Abgesehen davon beinhaltet das Urteil weitgehende Feststellungen, die für die bloße Verfassungswidrigkeit des Nachtragshaushaltsgesetzes nicht strikt notwendig gewesen wären und daher die eigenständige Bedeutung der Interpretation des Gerichts hervortreten lassen. Während der Vorwurf des haushälterischen Taschenspielertricks in Hinblick auf die „Umgehung“ der Schuldenbremse durch den rückwirkenden Nachtragshaushalt politisch sicherlich gewisse Überzeugungskraft besitzt, trifft das auf die rechtliche Einordnung nicht zu. Herauszuarbeiten, welche Haushaltsmanöver eine Umgehung, ein unzulässiges „Austricksen” der Schuldenbremse darstellen, ist genuine Aufgabe des Gerichts, das den Anwendungsbereich der Vorschriften nun konkretisiert und restriktiv gestaltet hat. Lediglich auf die Verantwortung des Verfassungsgebers, der die Schuldenbremse selbst im Grundgesetz verankert hat, zu verweisen, greift also zu kurz.

Nachträgliche Symptombekämpfung statt präventiver Krisenabwendung

Die Systematik der Schuldenbremse hält den Gesetzgeber dazu an, politische Ziele im Regelfall ohne Schulden zu erreichen. Dabei ist – aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht –  die Ausgabe von Staatsanleihen ein so sinnvolles wie übliches Instrument zur Staatsfinanzierung. Umsichtige Finanzpolitik strebt keine Schuldenfreiheit, sondern ein vernünftiges Maß an Schulden an  – im Gegensatz zur derzeitigen Ausgestaltung der Schuldenbremse, welche dem Staat nur in Ausnahmefällen Kreditaufnahmen in nennenswertem Umfang gestattet. Diese Ausnahmefälle befinden sich in Art. 115 II 6 GG. Demnach kann die Schuldenbremse im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, ausgesetzt werden.

Das BVerfG verlieh dieser Voraussetzung in seinem Urteil Konturen und stellte, bis auf die Einschätzung der erheblichen Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage, alle Merkmale unter vollständige verfassungsgerichtliche Kontrolle (Rn. 115). Mit Blick auf die Konstruktion der Notlage fällt auf, dass Kreditaufnahmen immer nur re-aktiv möglich sind. Das Kind muss also schon in den Brunnen gefallen sein, bevor der Gesetzgeber mit Hilfe von Kreditaufnahmen tätig werden darf. Ein aktives und präventives Vorgehen gegen vorhersehbare Krisen ist ohne Kredite zu tätigen. Die Schuldenbremse zwingt den Staat mithin gewissermaßen, Krisen eskalieren zu lassen, bevor Maßnahmen per Kreditaufnahme getätigt werden dürfen. Im Hinblick auf die Klimakrise entpuppt sich die Gefahr dieser Logik. Auf eine „Naturkatastrophe” im Sinne des Art. 115 II 6 GG dürfte der Staat mit Kreditaufnahmen reagieren. Unter Berücksichtigung der Erwägungen des Senats wäre beispielsweise ein Ereignis wie die Flut im Ahrtal eine solche Naturkatastrophe. Für die Bekämpfung der Ursache, die vielen Naturkatastrophen zugrunde liegt, der Klimakrise, darf der Staat allerdings keine Kredite verwenden, was geradezu paradox anmutet.

Ein im Ergebnis effizienteres Vorgehen hatte bereits das BVerfG selbst in seinem Klima-Beschluss von 2021 angemahnt. Unter dem Stichwort des intertemporalen Freiheitsschutzes nahm das Gericht damals erstmals eine intergenerationelle Perspektive ein und schrieb vor, dass Freiheitschancen der künftigen Generation durch engagierte Klimapolitik in der Gegenwart erhalten werden müssen. Der Zweite Senat schien nun nicht bereit zu sein, an die grundsätzlichen Erwägungen des Ersten Senats aus 2021 anzuknüpfen. Berücksichtigt man, dass das aktuelle Urteil sich mit Ausgaben zur Bekämpfung der Klimakrise auseinandersetzt, wäre es nicht abwegig gewesen, eine Auslegung des Staatsschuldenrechts im Lichte des Art. 20a GG vorzunehmen, wie auch Lennart Starke vorschlägt.

Langfristige Transformation versus Jährigkeit der Schuldenbremse

Neben der Auslegung der Notlagenklausel gem. Art. 115 II 6 GG beschäftigte sich das Gericht weiterhin damit, inwiefern allgemein anerkannte Grundsätze der Haushaltspolitik Teil des grundgesetzlichen Staatsschuldenrechts sind. Hervorzuheben ist dabei aus einer finanzpolitischen Perspektive der Grundsatz der Jährigkeit. Zunächst hielt das BVerfG fest, dass die Jährigkeit vollständig überprüfbarer Teil des Staatschuldenrechts im Grundgesetz ist (Rn. 155), welche nur in eng begrenzten Ausnahmefällen durchbrochen wird (Rn. 160). Dieser Grundsatz zwingt den Gesetzgeber und die Exekutive, in einem bestimmten Jahr vorgesehene Kreditermächtigungen auch vor Ablauf eben dieses Jahres tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Andernfalls entfällt die Ermächtigung ersatzlos. Sinn und Zweck dieses Grundsatzes sei es, eine „Lastenverschiebung in die Zukunft” zu verhindern (Rn. 162). Konkret soll verhindert werden, dass Notlagen benutzt werden, um den haushaltspolitischen Spielraum kommender Jahre über einen “Vorrat” an Kreditermächtigungen zu erweitern.

Die politische Übersetzung dieses Gedankens lieferte kurz nach der Urteilsverkündung sodann auch der ehemalige Kanzleramtsminister Helge Braun, indem er festhielt, dass es wichtig sei, den kommenden Generationen genügend finanziellen Spielraum zu belassen, um unter anderem die Anpassung an den Klimawandel zu bewältigen. Auch hier wünschte man sich, dass die Erwägungen des Ersten Senats aus dem Jahr 2021 Eingang in politische und verfassungsrechtliche Reflexionsprozesse nehmen würden.

Es bleibt nämlich zu bezweifeln, wie sinnvoll eine Fiskalregel ist, die den Gesetzgeber daran hindert, die Klimakrise in der Gegenwart mithilfe von Krediten adäquat zu bekämpfen, lediglich um kommenden Generationen „finanziellen Spielraum” für die Anpassung an eben jenen nicht hinreichend eingedämmten Klimawandel zu belassen.

Bemerkenswert ist…“

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Foto: Roben im Bundesverfassungsgericht, CC s. den Blog-Beitrag vom 26.02.2012