Moralische Panik

25. Februar 2014

logo_notinselMoralische Panik. Nach diesem Wort habe ich gesucht und jetzt hab ich es gefunden. In einem Interview in der taz zum Fall des tot geschlagenen Mädchens Yagmur in Hamburg [mehr…]. Doch es geht mir nicht um diese Tragödie in Hamburg, sondern um das, was Fabian Kessel analysiert hat. Der 43jährige ist Erziehungs- und Politikwissenschaftler und forscht über Kinder- und Jugendhilfe. Er lehrt an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Lesen Sie:

taz: Herr Kessl, warum sprechen Sie von einer „verschärften Kinderschutzdebatte“?

Fabian Kessl: Wir haben es bei der aktuellen Diskussion mit einer moralischen Panik zu tun. Diese Figur wurde in England in den 1960ern entwickelt, als es empörte Berichte über Jugendkriminalität gab. Die Empörung nahm damals eine Dynamik auf, die fast nichts mehr mit dem Phänomen selbst zu tun hatte. Aktuell erleben wir mit dem Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ eine ähnliche Panikmache, die eine fachliche Debatte eher schwierig macht.

Ich denke bei dem Wort „moralische Panik“ spontan an die, auch in Lingen so nachhaltig propagierte Aktion Notinsel. Sie suggeriert nämlich, dass die Geschäftsinhaber ohne Notinsel-Schild irgendetwas gegen Kinder hätten oder jedenfalls nicht für sie sind. Dass sie also irgendwie gemeinsame Sache mit denen machen, die Kinder in Not bringen. Sie tut außerdem so, als ob die mit Notinsel-Schild plakatierten Geschäfte den Kindern „Schutzräume“ bereit stellen, dass Kinder da überhaupt „Schutzräume“ brauchen. Schutzräume?! Was für ein Schmarrn ist das! Ich lese

Kinder in Angst brauchen Schutzräume. Alle Läden und Geschäfte, die das Notinsel-Zeichen an ihren Türen anbringen, signalisieren Kindern: „Wo wir sind, bist Du sicher„.

Mit dem Projekt hat die Stiftung Hänsel + Gretel die Initiative ergriffen und eine Möglichkeit geschaffen, Kindern in Notsituationen Fluchtmöglichkeiten aufzuzeigen, in denen sie Hilfe bekommen.

Aber wahr ist doch: Kein Lingener und keine Lingenerin lässt ein „in Not“ befindliches Kind, ein weinendes Kind allein, entzieht oder versagt ihm Hilfe. Eltern können ihrem Kind immer sagen: „Wenn Du Angst hast, wendetDich an einen Erwachsenen.“  An jede, an jeden! Sie können  sagen: „Schrei, renn ins nächste Geschäft oder lauf zum nächsten Haus und klingel die Erwachsenen raus.“ Denn das hilft in den gottlob wenigen extremen Fällen, in denen ein Kind überhaupt auf der Straße Angst hat und in Not ist.

Jede/r weiß doch, dass Gewalt gegen Kinder häufig in den Familien und Lebensgemeinschaften stattfindet, aber doch nicht auf dem Marktplatz oder in der Einkaufstraße.  Da hilft kein Notinsel-Aufkleber! Man kann  Hilfe für Kinder nicht an einem Aufkleber festmachen.

In Wahrheit ist die Aktion nur Alibi. Das sage nicht (nur) ich, das sagen (auch) beispielsweise der Kinderschutzbund und die Polizei in Essen [mehr…].

Sie beutet moralische Panik aus. Im wahrsten Sinne: Denn die „Hänsel+Gretel-Stiftung“, die die Notinsel-Aufkleber erfunden hat und vertreibt, bietet sie im Franchise-Verfahren an. Eine Erstausstattung kostet 5300 Euro plus einer Franchisegebühr von 750 Euro. Leute, bei so viel Doppelmoral bekomme ich moralische Panik. Und Hals!