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5. Oktober 2010

Gut, richtig und überfällig war es, den „Tag der Deutschen Einheit“ im Lingener Rathaus gebührend zu begehen. Das unterschied diesen Nationalfeiertag 2010 von den Vorjahren. Aber inhaltlich hat mich die Lingener Feierstunde am Samstagmorgen  doch enttäuscht. Zum Vergleich: Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat in Münster die Verdienste politischer Laien für den Erfolg der Wiedervereinigung gelobt. Auf einer Feierstunde zum „Tag der Deutschen Einheit“ sagte er, die Wiedervereinigung sei nicht nur eine Veranstaltung der großen Politik, sondern vieler Menschen gewesen.

Ganz anders die persönlichen Erinnerungen von Rudolf Seiters, 1990 Kanzleramtsminister. Er sprach am Samstag auf der Feierstunde im Lingener Rathaus. Mit Seiters‘ historischern Einordnung hatte ich Samstagmorgen meine Probleme und fand auch sofort eine seiner Eingangsbemerkungen seltsam über die letzten „20 Jahre, die Frieden und Freiheit gebracht haben“. Gebracht hat er tatsächlich gesagt. Es war letztlich doch eine ungewöhnlich subjektive Einschätzung, die Seiters im Sitzungssaal des neuen Rathauses vor rund 100 Gästen abgab. Im Kern Für ihn war die deutsche Einheit in erster Linie eine Sache  von Männerfreundschaften in der großen Politik: Kohl, Bush d.Ä., Gorbatschow, Mitterand. Im Gegensatz zum Bericht der Lingener Tagespost kam die  Bürgerrechtsbewegung der DDR nur zwei, drei Mal am Rande, also nicht wirklich vor. Und Frauen schon gar nicht.

Parallel zum anschwellenden Strom von DDR-Flüchtlingen im Sommer 1989 nach Budapest, Prag und Warschau kam es aber doch in der DDR zu einer Neuformierung und starken Verbreiterung der oppositionellen Reformer. Es entstanden in wenigen Monaten viele neue und aus SED-Sicht politisch subversive Organisationen. Bekannte Bürgerrechtlerinnen waren vorn dabei: Angelika Barbe, Vera Lengsfeld, Erika Drees, Ulrike Poppe, Freya Klier, Marianne Birthler, Gisela Hartmann, Brigitte Moritz, Katja Havemann und Bärbel Bohley. Nicht eine von ihnen erwähnte Seiters (und die Männer unter den DDR-Bürgerrechtlern auch nicht). Es war ein Männer-in-der-großen-Politik-Rückblick.  Die Bürgerrechtsbewegung in der DDR war für Seiters offenbar nicht bedeutsam, nur am Rande wichtig.

Schließlich war für Rudolf Seiters auch alles, was 1989/90 geschah und was er mitzuverantworten hatte, ausnahmslos und völlig richtig. Da wurde es dann noch subjektiver: Falsch lagen beispielsweise, so Seiters, ZEIT-Herausgeber Theo Sommer und Egon Bahr (SPD), die beide Anfang Oktober 1989 die deutsche Einheit nur in einem europäischen Kontext sahen; Seiters erwähnte beide ausdrücklich. Dass Helmut Kohl acht Wochen später (!) und drei Wochen nach dem Fall der Mauer in seinem Zehn-Punkte-Programm dasselbe wollte, vergaß der Redner. Auch missglückte Punkte wie die wenig überzeugend gestaltete Währungsreform 1990 blendete er aus. Kurz gesagt: Ich hätte mir insgesamt mehr selbstkritische Distanz gewünscht.

Am Schluss nach seiner 45-minütigen Rede durfte sich Rudolf Seiters dann in das Goldene Buch der Stadt eintragen. (Protokoll-Anmerkung: Unklar ist, warum und wer das beschlossen hat.)

Noch eine weitere, kleine Protokoll-Anmerkung:
Der neugewählte OB Dieter Krone war  leider aus familiären Gründen verhindert, wie ich hörte, so dass die „Erste Bürgermeisterin“ Ulla Haar (CDU) kurzerhand beschloss, sich die Bürgermeisterkette umzuhängen. Dies steht ihr aber nicht zu, sondern seit 2000 allein dem von den Bürgerinnen und Bürgern gewählten Oberbürgermeister. Haar hat sich  seit dem Rücktritt von OB Heiner Pott nicht das erste Mal die OB-Amtskette umgehängt. Eitel und selbstherrlich.

Auch der billig wirkende Programmzettel und die fehlende Übersetzung der Reden für die Gäste aus Polen und Katalonien haben mich ebenso gestört, wie mich die Ausstellung „Lingen-Marienberg- Eine Städtepartnerschaft im Zeichen der Wiedervereinigung“ nicht überzeugt hat; denn sie wirkt eher wie ein touristisch-historischer Rückblick. Und schon Nachmittags flatterten statt den polnischen und der katalanischen Fahnen wieder  die städtischen Werbefahnen vor dem Rathaus.

Also: Es ist gut, dass es diesmal eine Feierstunde zum deutschen Nationalfeiertag gab, aber es kann manches verbessert werden. 2011 ist Gelegenheit dazu. Dieter Krone, übernehmen Sie.