Wortlaut

10. November 2017

Hier der Wortlaut der Rede von Benno Vocks bei der Gedenkfeier zur Erinnerung an das Novemberpogrom 1938 gestern Abend am Gedenkort Jüdische Schule in Lingen(Ems):

„Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir dürfen Sie hier am Gedenkort Jüdische Schule ganz herzlich begrüßen. Ein besonderer Gruß gilt dem „Lingener Flüchtlingsforum für Integratiuon und Menschenrechte“  mit ihrem Vorsitzenden, Herrn Jean-Marie Minani. Dieses Forum bemüht sich um eine selbständige und verbesserte Kommunikation zwischen Flüchtlingen und Asylbewerbern einerseits und den Behörden und Bewohnern unserer Stadt andererseits….

In Lingen wurde zweimal gefackelt am 9. November 1938. Welch großer Kontrast – welch beklemmender Zusammenhang!

Wie die Zeitung Neue Volksblätter vermeldete, loderten zu beiden Seiten des Saales der Wilhelmshöhe Hunderte von Fackeln zu Ehren der Opfer der Bewegung am 9. November 1923, dem Tag des Hitler-Putsches in München. Zuvor hatte man am Kriegerehrenmal am Neuen Friedhof die Toten geehrt und anschließend gingen die Nationalsozialisten zum Grab von Gottfried Talle.

Dieser Lingener Polizist, der keiner Nazi-Organisation angehörte, war im Jahre 1932 als Polizist in Bremen bei einer kommunistischen Gegendemonstration gegen Nationalsozialisten durch eine Bombenexplosion ums Leben gekommen. Ihn vereinnahmte der hiesige Bürgermeister dreist und verlogen bei seiner Rede als Kämpfer und Opfer für Hitler.

Stunden später loderten die Flammen zum zweiten Mal in Lingen: hier in der jüdischen Synagoge. Und die Reaktion dazu in der Lingener Zeitung? Keine!

Wohl aber lesen wir Aussagen von Joseph Goebbels zu dem Mord des 17jährigen Herschel Grünspan an den deutschen Botschafter von Rath in Paris. Ich zitiere: Die berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes über den feigen Mord hat sich in der vergangenen Nacht in umfangreichem Maße Luft verschafft. In zahlreichen Städten und Orten wurden Vergeltungsaktionen gegen jüdische Gebäude und Geschäfte vorgenommen. Es ergeht nunmehr die strenge Aufforderung, von allen weiteren Maßnahmen gegen das Judentum abzusehen. Die endgültige Antwort auf dieses Verbrechen wird auf dem Wege der Gesetzgebung gegen das Judentum erteilt werden.

An anderer Stelle lesen wir: Trotzdem hat sich die Vergeltungsaktion gegen die Juden in einer äußerst disziplinierten Form vollzogen. In Deutschland wurde nicht einem Juden ein Haar gekrümmt.  Zitat Ende

Und geschah hier in Lingen am nächsten Tag? Mit Fredy Markreich, dessen Geschäft in der Großen Straße ausgeplündert und zerstört wurde? Mit Hugo Hanauer? Mit Wilhelm Heilbronn, dem Vater von Ruth Foster? Mit Neumann Okunski, der halbangezogen die Treppe heruntergeworfen wurde – hier gegenüber? Mit dem Synagogenvorsteher Jakob Wolff? Mit Bendix Grünberg, dessen Sohn [und Ehrenbürger der Stadt Lingen(Ems)] Bernard sich hoffentlich nach seiner Operation erholen und im nächsten Frühjahr hier seinen 95. Geburtstag feiern kann.

Diese sechs Lingener Mitbürger wurden ins KZ Buchenwald verschleppt und Wochen später nach ihrer sogenannten Freilassung unter Androhung der Todesstrafe zum Schweigen verpflichtet.

Lassen Sie mich nun einige persönliche Gedanken aufgreifen: Im Jahre 1963 lasen wir Schüler mit Dr. Göken im Deutschunterricht am Georgianum die Erzählung von Albrecht Goes: Das Brandopfer.

In dieser Erzählung geht es darum, dass eine Metzgersfrau in einer deutschen Kleinstadt dazu bestimmt ist, als einzige knapp vor dem Sabbat Fleisch an die Juden auszugeben. Ihre winzigen Möglichkeiten zu helfen bestehen darin, eventuell eine Nachricht von einer Jüdin zur anderen in das Papier der minimalen Fleischration einzuwickeln oder ein freundliches Wort zu wechseln.

Bei einem Bombenalarm während des Krieges bleibt sie in ihrer Wohnung. Sie will sich in ihrer Barmherzigkeit opfern wegen ihrer Schwäche und vermeintlichen Schuld. Sie wird aber von einem Juden aus dem brennenden Haus geborgen. Diesem war wegen seines Judensterns auf dem Mantel der Zutritt zum Bunker verweigert worden. Das Opfer wird aber von Gott, wie der Theologe Albrecht Goes sagt, nicht angenommen. Aber seit diesem Zeitpunkt nimmt die Metzgersfrau als Zeichen ihrer „passiven Schuld“ ein Brandmal in ihrem Gesicht an.

Ein Satz aus dieser Erzählung ist seit meiner Schülerzeit mir äußerst intensiv im Gedächtnis hängengeblieben:

Sabine, die Tochter eines jüdischen Verlegers, fragt zunächst ihre Mutter nach dem Verbleib ihrer Freundin Rebecca, die plötzlich verschwunden ist: Die Mutter sagt aus Angst vor der Wahrheit mit dem Satz „Sie ist verreist!“ die zweifache Unwahrheit. Sie ist nicht VERREIST. Und wenn schon: Dann WAR sie verreist. Sabine löchert nun ihren Vater immer wieder „Wo ist Rebecca?“, bis er antwortet: REBECCA IST IN DIR!

Rebekka ist in dir. Ist das nicht auch immer wieder unser Auftrag: sie, die Ermordeten in uns aufzunehmen, ihrer zu gedenken und ihnen wieder einen Namen zu geben?

Schauen wir nur auf diese Gedenktafel, auf Straßennamen und die Stolpersteine in unserer Stadt.

Auch die Probleme der heutigen Flüchtlinge und Asylbewerber werden Fall identischer, wenn wir nicht von DEN Flüchtlingen und Asylbewerbern sprechen, sondern sie beim Namen nennen, zum Beispiel Ahmed oder Saphira, Mahmood oder Okbeab, so wie es auch sicher die Flüchtlingshelfer unter uns machen.

Wir wollen gleich anschließend bei der Mahnwache an dem Stolperstein zwischen altem Krankenhaus und der Stadtbücherei der unscheinbaren Frau Henriette Flatow wieder einen Namen geben und die Erinnerung an sie und die anderen ermordeten Mitbürger in uns tragen. Zu dieser Mahnwache mit Herrn Kastein darf ich Sie noch sehr gerne einladen.“