In der Nacht vom 12. auf den 13. Mai 2024 ist die Polizei gegen 23 Uhr mit einem Durchsuchungsbefehl in die Gemeinderäume der Kirchengemeinde Sankt Michaelis in Bienenbüttel (Foto lks) eingedrungen und hat einen russischen Kriegsdienstverweigerer, seine Frau, den erwachsenen Sohn und die 16-jährige Tochter gewaltsam aus dem Kirchenasyl herausgeholt. Etwa 15 Beamte waren mit sechs Autos an der Festnahme beteiligt. Das Pfarrhaus, für das ebenfalls ein Durchsuchungsbeschluss vorlag, wurde abgeriegelt.

Zum Hintergrund schreibt die taz: „Nach der Darstellung des Kirchenkreises und der Gemeinde war die Familie – zu der ein erwachsener Sohn und eine 16-jährige Tochter gehören – auf der Durchreise bei Verwandten in Deutschland, als in Russland die Einberufungsbefehle für Vater und Sohn eingetroffen seien. Sie beantragten deshalb in Deutschland Asyl und hofften auf die Hilfe ihrer Verwandten und Freunde im Landkreis Uelzen. Die Mutter sei aufgrund der psychischen Belastung schwer erkrankt und habe sich in eine stationäre medizinische Behandlung begeben müssen.

Weil die Familie aber über ein spanisches Visum verfügte, sollte sie trotz der laufenden Behandlung nach Spanien abgeschoben werden. Um dem zu entgehen, begab sie sich ins Kirchenasyl. Die Gemeinde und die Kirchenkreissozialarbeit hätten den Fall sorgfältig geprüft, bevor sie einwilligten, heißt es in der Pressemitteilung. Neben dem Gesundheitszustand der Mutter habe auch die positive Prognose zur Integration der Familie den Ausschlag gegeben. Die Tochter besuchte das ­Lessing-Gymnasium in Uelzen, für Vater und Sohn gab es Jobangebote.“

Der Flüchtlingsrat Niedersachsen äußert sich entsetzt:

„Die letzte Kirchenasylräumung vor 2024 fand in Niedersachsen 1998 in Glandorf-Schwege bei Osnabrück statt. Seither verzichteten alle Landesregierungen auf ein gewaltsames Eindringen in Kirchenasylräume. Es brauchte offenkundig eine rot-grüne Landesregierung, um dieses Tabu in Niedersachsen zu brechen. Zur Durchsetzung der verkündeten „Abschiebungsoffensive“ werden die letzten Hemmungen abgelegt.“

Selbstverständlich ist die Kirche kein rechtsfreier Raum. Aber die bisherigen Landesregierungen verzichteten aus guten Gründen darauf, gewaltsam in kirchliche Räume einzudringen: „Wenn die Vollzugsbehörden aus Respekt vor dem besonderen Charakter dieser Orte auf die Durchsetzung der gesetzlich gebotenen Zwangsmaßnahmen gegen Personen verzichten, verzichtet der Staat einseitig darauf, zum Zweck der Abschiebung unmittelbaren Zwang gegen Personen in bestimmten kirchlichen Räumen anzuwenden“, erklärte Innenminister Uwe Schünemann (CDU) 2007 auf Anfrage der Grünen im Landtag. Ähnlich argumentierte Innenminister Boris Pistorius (SPD) am 20. März 2015: „Wenn in Einzelfällen Kirchengemeinden aus Gewissensgründen in ihren kirchlichen Räumen Ausreisepflichtigen vorübergehend Unterkunft gewähren, so verzichten die zuständigen Behörden aus Respekt vor den geschützten und der Glaubensausübung dienenden Räume der Kirchen, Klöster und Pfarrhäuser darauf, in diesen Räumen Verwaltungszwangsmaßnahmen zu vollziehen. Diese Haltung hat sich in den vergangenen 20 Jahren als konfliktlösend bewährt. Die Landesregierung sieht deshalb keine Veranlassung, ihre grundsätzliche Haltung zum Umgang mit Kirchenasylfällen zu ändern und weiterhin im engen Dialog mit den Kirchen bleiben.“

Zuständige Ausländerbehörde für Dublin-Abschiebungen ist das BAMF, eine Bundesbehörde. Die niedersächsische Landesaufnahmebehörde ist allerdings nötig, um in Amtshilfe tätig zu werden: Die niedersächsische Behörde ist zuständig für die Umsetzung von Abschiebungen. Sie  hat den Flug gebucht, den Durchsuchungsbefehl beantragt und die Kirchenasylräumung durchgesetzt.

Es ist insofern absurd zu behaupten, niedersächsische Behörden seien für die Abschiebung nicht verantwortlich: Niemand hat die niedersächsische Landesregierung gezwungen, den Konsens der letzten 26 Jahre zu brechen, dass Polizei nicht gewaltsam in Kirchenräume eindringt, um Schutzsuchende festzunehmen.

Schon am 25. April 2024 hat es den Versuch einer Abschiebung aus dem Kirchenasyl in Schwanewede gegeben: Ein syrischer Flüchtling, der auf seiner Flucht durch lettische Behörden misshandelt und tagelang inhaftiert worden war, wurde von zwei Polizeibeamt:innen aus der Kirche abgeholt und sollte nach Lettland abgeschoben werden. Die Abschiebung wurde dann aber aufgrund eines Zusammenbruchs abgebrochen und die Rückkehr ins Kirchenasyl gestattet. Vom niedersächsischen Innenministerium gab es die Zusage, den Sachverhalt aufzuarbeiten und das Gespräch mit den Kirchen zu suchen.

Bei dem neuerlichen Bruch des Kirchenasyls handelt es sich insofern nicht um ein „Versehen“, sondern um die Durchsetzung einer neuen, restiktiven Linie im Umgang mit Kirchenasyl. Die Landesaufnahmebehörde ist planvoll vorgegangen, hat einen Durchsuchungsbeschluss herbeigeführt und hat die Kirchengemeinde und das Pfarrhaus systematisch abgeriegelt. Das Innenministerium hat es jederzeit in der Hand, Abschiebungen anzuordnen oder zu stoppen. Von der niedersächsischen Innenministerin Daniela Behrens hat es auch nach dem Vorfall in Schneverdingen eine Weisung, Kirchenasyl auch weiterhin zu achten, offenkundig nicht gegeben. Weder von der SPD noch von den Grünen hat es offenkundig die Bereitschaft gegeben, die Frage des Umgangs mit Kirchenasyl zu einer politischen Grundsatzfrage zu machen.

In den letzten Monaten hat es auch in anderen Bundesländern (Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen) teils spektakuläre Fälle einer Räumung von Kirchenasyl gegeben. Die neue, repressive Linie im Umgang mit Kirchenasyl soll wohl vor allem nach innen „Härte“ signalisieren und spiegelt insofern den Rechtsruck in der innenpolitischen Diskussion wider: Statt den Rechtsextremen Paroli zu bieten, läuft die Politik ihren Parolen hinterher. Gemessen an der Gesamtzahl der Fälle spielt Kirchenasyl nur eine untergeordnete Rolle. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche stellt zu Recht fest:

Im Jahr 2023 wurden laut BAMF bundesweit 2.065 Kirchenasylfälle registriert. Die Zahl der Übernahmeersuchen an andere Mitgliedstaaten betrug 74.622. Tatsächlich überstellt wurden jedoch lediglich 5.053 Personen. Damit wird deutlich, dass Kirchenasyl kein bestimmender Faktor bei den nicht erfolgten Rückschiebungen ist.

Anhang: Zu den Hintergründen des Kirchenasyls und zum Einzelfall finden sich in der Presseerklärung des Ev-luth. Kirchenkreises Uelzen weitere Hinweise


Foto: Turm der St-Michaelis-Kirche, Bienenbüttel von Frank VincentzEigenes Werk/CC BY-SA 3.0

Quellen: Nieders. Flüchtlingsrat, taz