Die EU-Kommission will die Anbieter von Messengerdiensten bis zu E-Mails verpflichten, Fotos, Videos und andere Inhalte, die ihre Nutzerinnen und Nutzer verschicken oder hochladen, automatisch auf Darstellungen von Kindesmissbrauch zu durchsuchen und mögliche strafbare Fälle an die Ermittlungsbehörden zu melden.

Der Juristische Dienst des EU-Rats hat diese Pläne zur Chatkontrolle als grundrechtswidrig bezeichnet, ebenso wie andere Juristen, die deutschen und europäischen Datenschutzbeauftragten sowie die Wissenschaftlichen Dienste von Bundestag und EU-Parlament an. Alle und auch zahlreiche NGOs warnen eindringlich davor, diese oder ähnliche Maßnahmen weiterzuverfolgen.

Mädchen schaut auf Handy
Mit düsteren Bildern untermalt die EU-Kommission die Zahlen einer umstrittenen Meinungsumfrage. –  Screenshot Werbevideo

Mitten im Gesetzesprozess der EU hat jetzt EU-Innenkommissarin Ylva Johansson im September Werbung für die Chatkontrolle in den Ländern geschaltet, die kritisch gegenüber der geplanten EU-Verordnung sind. Die Zielgruppe der Werbung wählte sie nach religiösen und politischen Einstellungen aus. Es handelt sich dabei um politisches Mikrotargeting – einer Form von gezielter Werbung, die die EU wegen Manipulationsmöglichkeiten eigentlich strenger regulieren will. Und das mitten im Gesetzgebungsprozess, während im Rat um eine Mehrheit für das Vorhaben gerungen wird.

Aufgedeckt hat das der niederländische Jurist und Digitalexperte Danny Mekić: Er recherchierte dafürin den Transparenzberichten von X [vormals Twitter], in denen die Plattform Details zu politischer Werbung auflisten muss. Laut seinem Gastbeitrag im niederländischen Volkskrant – hier eine englische Version auf seiner Webseite – wurde die Kampagne für die Chatkontrolle ab dem 15. September geschaltet, einen Tag nachdem klar wurde, dass der Vorschlag der EU-Kommission keine Mehrheit unter den Mitgliedsstaaten hat. Die Kampagne soll in den Niederlanden, Schweden, Belgien, Finnland, Slowenien, Portugal und der Tschechischen Republik mehr als drei Millionen mal ausgespielt worden sein.

Im Volkskrant heißt es:

Die Kampagne [..] verwendet schockierende Bilder von jungen Mädchen neben unheimlich aussehenden Männern und bedrohlicher Musik und betreibt eine Form der emotionalen Erpressung, indem sie suggeriert, dass die Gegner des Gesetzes Kinder nicht vor Missbrauch schützen wollen.

Auch die Inhalte der Werbung sind irreführend. Sie stützen sich auf umstrittene Meinungsumfragen der EU-Kommission selbst (PDF), bei der hohe Zustimmungswerte zur Chatkontrolle suggeriert werden. In der Fragestellung wurden die negativen Auswirkungen allerdings nicht erwähnt und sehr allgemein gefragt, ob Missbrauchsbilder online gesucht werden sollten. Andere Umfragen zur Chatkontrolle wie die von Novus oder YouGov zeichnen ein komplett anderes Meinungsbild.

Religiöse und politische Einstellungen genutzt

Mekić verweist auf die Transparenzberichte von X (BelgienTschechienFinnlandNiederlandePortugalSchwedenSlowenien – jeweils CSV), die Informationen über Regierungsanfragen liefern. Aus diesen geht hervor, wie die Europäische Kommission politisches Microtargeting eingesetzt hat. So seien die Zielgruppen der Kampagne bewusst so zugeschnitten worden, „dass die Anzeigen nicht bei Personen erscheinen, denen der Datenschutz wichtig ist (Personen, die sich für Julian Assange interessieren) und bei Euroskeptikern (Personen, die sich für „nexit“, „brexit“ und „spanexit“ oder für Victor Orbán, Nigel Farage oder die deutsche politische Partei AfD interessieren)“.

Zudem wurden laut dem Bericht auch Personen, die sich für das Christentum interessieren, ausgeschlossen. Hier könnte die Annahme dahinter stecken, dass diese Personen sowieso schon Anhänger der EU-Verordnung seien.

Dieses Mikrotargeting nach politischen und religiösen Überzeugungen verstößt laut Mekić nicht nur gegen die Werberegeln von X, sondern auch gegen das Digitale-Dienste-Gesetz der EU und die Datenschutzgrundverordnung.

Die niederländische EU-Abgeordnete Sophie in’t Veld stellt eine formale Anfrage an die EU-Kommission, die sie vorab öffentlich gemacht (PDF) hat. Darin fragt sie unter anderem nach dem Ziel einer „Kampagne zur Förderung eines sehr sensiblen Legislativvorschlags“ mitten im Legislativverfahren von Parlament und Rat. Zugleich stellt sie die Frage, ob die Kampagne im Einklang mit der Datenschutzgrundverordnung und dem Digitale-Dienste-Gesetz steht.

„Neuer Tiefpunkt“

Konstantin Macher von Digitalcourage, einer Bürgerrechtsorganisation, die sich gegen die Chatkontrolle einsetzt, sagt gegenüber netzpolitik.org: „Mit Microtargeting und Desinformation für die Chatkontrolle erreicht die EU-Kommission einen neuen Tiefpunkt in ihrer Kampagne für das Überwachungsgesetz.”

Zuletzt hatten investigative Recherchen ergeben, dass die EU-Innenkommissarin eine große Nähe zu Lobbynetzwerken hat, die auch mit finanziellen Interessen für die Chatkontrolle werben. Johansson war auch schon in der Vergangenheit mit Falschinformationen und irreführenden Aussagen zur Chatkontrolle aufgefallen.


Ein Beitrag von auf netzpolitik.org – Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

 

Nachtrag:
Der EU-Kompromissvorschlag vom 12. Oktober geht der Bundesregierung offenbar nicht weit genug. Sie fordert, dass die umstrittenen Teile wie die Chatkontrolle erst einmal aus der Verordnung herausgenommen werden. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition werden „allgemeine Überwachungspflichten, Maßnahmen zum Scannen privater Kommunikation und eine Identifizierungspflicht“ abgelehnt, und es wird erklärt, dass „anonyme und pseudonyme Online-Nutzung“ gewahrt bleiben wird.