Zeit

31. Dezember 2006

Die Wochenzeitung DIE ZEIT veröffentlicht in dieser letzten Woche des Jahres ein langes „Dossier“ von Christian Schüle über seine Reise zu Menschen, die sich der wachsenden Beschleunigung widersetzen und das langsame Leben neu entdecken. Beeindruckt haben mich aus dieser lesenswerten Abhandlung nicht nur die Zeilen über die fränkische Stadt Hersbruck, die erste deutsche Cittaslow. Autor Christian Schüle schreibt u.a.:

    „Langsame Städte wie das evangelisch-bayerische Hersbruck setzen den globalkapitalistischen Kreisläufen gezielt regionale Kreisläufe entgegen. Handelsketten sind unerwünscht, alteingesessene Betriebe werden bewusst gefördert, historische Flächen aus dem 15. Jahrhundert beweidet, Streuobstwiesen kultiviert. Die Bauern vermarkten direkt, in den Gaststätten kommt, auch wenn das Lamm ein paar Cent teurer ist, nur die »Heimat auf den Teller«. Die Stadt hat vier Erdgasbusse, eine Erdgastankstelle, und wenn ein Begriff alle Hersbrucker Bemühungen auf den Punkt bringt, so ist es jener der Nachhaltigkeit.“

Wolfgang Plattmeier, ein „Roter“, formuliert Christian Schüle, „ist das Triebwerk der bemerkenswerten Langsamkeit“. Dazu noch ein Zitat aus dem ZEIT-Dossier:

    „Wir könnten unser neues Thermalbad auch mit deutlich billigeren Hackschnitzeln aus Brasilien oder Tschechien beheizen«, sagt (der Bürgermeister), „aber wir verwenden ausschließlich Hackschnitzel aus der Region bis zwanzig Kilometer. Plattmeier, zugleich Erster Vorsitzender der deutschen Sektion der Cittaslow-Bewegung, dem Bewerbungen vier deutscher Städte vorliegen, geht es um nichts weniger denn um gesteuerte Anreize, sich Zeit fürs Nachdenken und fürs Schärfen des Bewusstseins zu nehmen. Er will den Bürger animieren, Zeit qualitativ zu bewerten, nachzusinnen über die Herkunft der Nahrung und die Zyklen der Natur, über Leid und Freud und Geschichte, die in der traditionellen Substanz der alten fränkischen Häuser aus dem 17. Jahrhundert stecken. Programmatisch erklärt der Bürgermeister: »Man muss nicht autark sein, aber Autarkie ist ein genussvoller Luxus, der einen letztlich viel aufmerksamer und sorgfältiger werden lässt.“

Mein spontaner Gedanke: Den ZEIT-Artikel über die allerorten fehlende Nachhaltigkeit und ihre machbaren Alternativen sollte man zur Pflichtlektüre machen – nicht nur in den Schulen. Auch die Mehrheitsfraktion im Lingener Stadtrat täte gut, ihn sorgfältig zu lesen, ist sie es doch, die alles und jedes zulässt und erlaubt, was man an sie an Machbarem heranträgt. Dann könnte sie doch zumindest erkennen, dass es auch anders geht und wie. Zwei kleine, aktuelle Beispiele: Die Union will die Zerstörung von 1 Hektar Schutzwald in Damaschke für einen Lagerplatz zulassen; in der letzten Ratssitzung hat sie nach kurzer Diskussion durchgesetzt, dass eine 23-Stunden-offen-Groß-Spielhalle auf dem früheren Gala-Bau-Gelände an der Rheiner Straße entsteht. Da machten einige Kollegen große Verrenkungen, weil ja auch die CDU sagt, dass Spielhallen mit Daddelautomaten unerwünscht sind, „aber dann er geht eben nach Lohne…“ und „dann schon lieber hier…“ – „wegen der Steuern und der Arbeitsplätze…“.
Die Sozialdemokraten haben zu dem dümmlich „Entertainment-Center“ genannten Plan inzwischen auch öffentlich Stellung genommen. Der Plan ist schädlich für die Menschen in unserer Stadt, er wird trotzdem nicht mehr geändert werden. Und das ebenso schädliche Vorhaben, den Schutzwald in Damaschke abzuholzen, wird kommen. Dabei gibt es ohne wirklichen Aufwand Alternativen, wenn nur die Bereitschaft zum nachhaltigen Handeln, zum Innehalten, zum sorgsamen aktiven Gestalten bestünde.

Nachhaltigkeit heißt die Alternative. Man muss sie als Chance erkennen, um sie zu leben. Dazu noch einmal einen Blick in das ZEIT-Dosier:

    „Natürlich ist Hersbruck vollwertiges Mitglied der späten Moderne. Es gibt Hartz-IV-Bürger, an die 400 Arbeitslose, den üblichen Kirchgängerschwund, und von der Vergreisung der deutschen Gesellschaft macht auch eine langsame Stadt keine Ausnahme. Selbst in Hersbruck kommt es nachweislich vor, dass eine hastende Frau in High Heels ihren Cherokee auf dem Trottoir parkt und zum Schuhmachermeister rennt. Aber wer eine McDonald’s-Filiale mit dem Hinweis ablehnt, Fast Food gehe vielleicht schneller, sei jedoch verlorene Zeit, da Harmonie, innere Ruhe und seelische Zufriedenheit beim Essen verlustig gingen (was schließlich einen erheblichen Aufwand an kontemplativem Ausgleich verlange),…“

Das macht den Unterschied aus. Offenbar ist in Hersbruck eben niemand besoffen von Euforie und Hektik bei der Vorstellung, es gebe ein erfülltes Leben nur mit dem Zeitgeist, also zB mit McDonald’s, Entertainment-Centern, für Gewerbe abgeholzten Wäldern und dgl. Während andernorts die ersten Lokale Agenda 21-Prozesse in die Ausarbeitung lokaler Nachhaltigkeitsstrategien mündeten, ist die Lokale Agenda in unserer Stadt grandios gescheitert und für beendet erklärt worden. Sie hat es nie geschafft Rahmenbedingungen zu formulieren, die die politische Mehrheit bereit war, als Rahmen zu akzeptieren. Sie lehnt nachhaltige ordnungsrahmen ab, weil sie von dem Drang getrieben wird, alles zuzulassen, was gemacht werden kann. Dies hält sie für gute Politik. Ich fürchte: Nicht nur künftige Generationen werden dafür einen hohen Preis zahlen.

Den zweiten Gedanke, den ich in dieser Zeit zwischen den Jahren beim Lesen des ZEIT-Dossiers „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ hatte, betraf nicht die Stadtentwicklung. Was schreibt Christian Schüle noch über sich?

    „Ich bin erschöpft und in meiner Erschöpftheit zugleich hyperaktiv. Es kam in diesem Jahr gelegentlich vor, dass ich nicht mehr wusste, welches Datum war. Ich bin nicht imstande, zu sagen, womit genau ich meine Zeit verbrauche. Ich stelle nur fest, dass ich nie genügend habe. Ich fühle mich getrieben von den Umständen, über deren Bedingungen ich nichts Genaues weiß. Ich bin ein typischer Vertreter der dauererregten Leistungsgesellschaft in permanenter Zeitnot. Solche Menschen tun das meiste gleichzeitig und erlegen sich stets das höchste Pensum auf, unter dessen Druck sie dann leiden. Warteschlangen im Postamt martern sie, in Wartezimmern beim Arzt werden sie rasch ungehalten, auf Wartestühlen in Ämtern wütend. Oft arbeiten sie in die Nacht hinein. Sie schlafen schlecht, weil sie nicht abschalten können. Die Uhr ist ihr wichtigster Partner.
    Anfang November las ich in verschiedenen wissenschaftlichen Studien folgende Fakten: Ehepaare reden am Tag durchschnittlich acht Minuten miteinander; 40 Prozent der leitenden Angestellten leiden unter Stress; das Lebenstempo hat sich in den letzten 200 Jahren verdoppelt; vier von fünf Kindern in Deutschland fühlen sich unter Zeitdruck; der Einsatz von Beruhigungsmitteln, Antidepressiva und Muntermachern steigt jährlich um acht bis zehn Prozent; und Untersuchungen der Historikerin Juliet Schor zufolge haben Amerikaner seit Mitte der 1970er Jahre 37 Prozent ihrer Freizeit eingebüßt.“

Sein persönliches Fazit:

    „Als ich erkannte, dass auch ich zu denjenigen gehöre, in deren aktivem Wortschatz das wunderbare Wort »Muße« nicht vorkommt, machte ich mich auf die Suche nach der verlorenen Zeit…“

Das neue Jahr ist dafür gerade richtig. Für jeden.