Gehsteigbelästigung

24. Juni 2022

Lang wurde um den Paragrafen 219a StGB, das sog. Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche, gestritten. Nun ist er bald Geschichte.  Wenn der Deutsche Bundestag heute die Streichung des § 219a StGB in 2./3. Lesung beschließt, sagt Sonja Eichwede, Rechtspolitikerin der SPD-Bundestagsfraktion, ist das ein wichtiger Schritt für die Selbstbestimmung von Frauen und ein wichtiger Schritt in Richtung eines modernen Strafrechts.“ Sie ergänzt:

„Die Streichung von § 219a Strafgesetzbuch stärkt die sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung von Frauen und verbessert die Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte. Denn § 219a schränkt den Zugang zu medizinisch sachlichen Informationen ein und ist mit unserem heutigen Verständnis von Selbstbestimmung nicht vereinbar. Ärztinnen und Ärzte müssen befürchten, für die öffentliche Verbreitung sachlicher Informationen über rechtmäßige Schwangerschaftsabbrüche verfolgt zu werden.

Die selbstbestimmte Entscheidung einer Frau über Fortführung oder Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft ist auch eine ihre Gesundheit betreffende Entscheidung. Zu einer guten und zeitgemäßen medizinischen Versorgung gehört der öffentliche Zugang zu verlässlichen sachlichen Informationen. Es ist überfällig, dass sich ungewollt schwangere Frauen gerade bei Ärztinnen und Ärzte informieren können, die selbst Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Dies setzt auch unlauteren Informationsquellen von Abtreibungsgegnerinnen und Abtreibungsgegner etwas entgegen.“

Am Mittwochmorgen hatte bereits der Rechtsausschuss des Bundestages die Streichung des § 219a StGB beschlossen. Zudem wird das Recht von Ärztinnen und Ärzten und anderer Einrichtungen, sachlich über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren, nunmehr auch im Schwangerschaftskonfliktgesetz festgeschrieben. Für den Gesetzentwurf der Ampel-Regierung (20/1635)  stimmten die Vertreter der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Gegenstimmen von CDU/CSU und AfD. Anträge von CDUCSU (20/1017) und AfD (20/1505, 20/1866), die sich jeweils gegen das Vorhaben gerichtet hatten, sowie der Linken (20/1736), die weitergehende Forderungen gestellt hatte, fanden im Rechtsausschuss keine Mehrheit und werden sich auch im Bundestagsplenum  nicht durchsetzen.

Die frauenpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion Leni Breymaier setzte gestern hinzu: „Um das reproduktive Selbstbestimmungsrecht von Frauen weiter zu stärken, werden wir noch weiter gehen. Sogenannte Gehsteigbelästigungen von Abtreibungsgegnerinnen und Abtreibungsgegnern vor Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen und Arztpraxen setzen schwangere Frauen psychisch unter Druck. Sie erschweren zudem die Arbeit der Beratungsstellen und Arztpraxen. Höchste Zeit, dass wir sogenannten Gehsteigbelästigungen einen gesetzlichen Riegel vorschieben.“

 

Dunkelkammer

30. August 2020

In den forensischen Kliniken des Maßregelvollzugs soll psychisch Kranken, die straffällig geworden sind, geholfen werden. Aber in den hochgesicherten Anstalten fehlen Standards und öffentliche Kontrolle. Für die Patientinnen und Patienten ist der Alltag ein Kampf gegen Ungewissheit, Willkür und das Vergessenwerden. Wer von einem Gericht für schuldunfähig befunden wird, darf nicht bestraft werden. Deswegen sind psychisch Kranke im Maßregelvollzug Patienten und keine Häftlinge. Sie sollen Therapie und Unterstützung bekommen, bis sie als ungefährlich gelten. Aber wie genau die Tausenden Menschen in den über 70 Kliniken behandelt werden, ist kaum bekannt. Klar ist nur: Wer einmal dort ist, weiß nicht, ob er jemals wieder entlassen wird.

Was mit psychisch Kranken im Maßregelvollzug passiert, hieß es vor einigen Tagen im DLFKultur. „In der Dunkelkammer des Strafrechts – psychisch Kranke im Maßregelvollzug“ heißt der Titel des Features von Carolin Haentjes und Antonia Märzhäuser. Das DLFKultur-Feature begibt sich damit hinter die Mauern dieses abgeschotteten Systems. Menschen, die dort viele Jahre verbracht haben, berichten von Missbrauch und Willkür. Pfleger und Ärzte erzählen, wie Überforderung und schlechte Arbeitsbedingungen zu Entmenschlichung führen und was passiert, wenn die Gesellschaft wegschaut.

Die geschätzte Leserschaft sollte sich bitte das Feature anhören –  oder lesen. Und in ganzem Umfang. Ist ja Sonntag…


Carolin Haentjes, (geboren 1989) lebt als freie Journalistin in Leipzig. Sie produziert Features und Reportagen für die politischen Magazine des MDR und Sendungen des Deutschlandradios.

Antonia Märzhäuser, (geboren 1989) lebt als freie Journalistin in Berlin. Sie dreht Reportagen und Magazinbeiträge für die ARD und schreibt u.a. für die FAZ und den Tagesspiegel.

 

In einer WhatsApp-Gruppe?

12. Januar 2019

Ihr seid Mitglied in einer dieser Whats-App-Gruppen, in denen unzählige Menschen jeden Tag Katzenbilder, doofe Sprüche und auch sonst jeden Blödsinn weiterleiten, den es so im Internet gibt? Ich will euch den Spaß daran nicht verderben, aber vielleicht lest ihr dann besser nicht weiter.

Die Geschichte beginnt banal. Eine 17-Jährige soll nicht nur brav zur Schule gegangen sein. Vielmehr regte sich der Verdacht, dass sie ihren eigenen Marihuana-Konsum dadurch finanziert, dass sie Mitschülern auch mal was verkauft. Die Polizei kriegte einen Tipp, es kam zur Hausdurchsuchung bei der Schülerin.

Die Polizei wertete das Handy der jungen Frau aus. Und zwar extrem ordentlich. Unter anderem scrollten sich die Beamten durch alle Whats-App-Gruppen durch, in denen die Betroffene Mitglied war. Es sind viele Gruppen. Darunter eine mit knapp 600 aktiven Teilnehmern. Eben so eine typische Quatsch-Gruppe, in der fast sekündlich was gepostet wird.

Dumm nur, dass vor einigen Monaten wohl auch jemand mal zwei, drei Fotos gepostet hat, die spärlich bekleidete junge Menschen zeigen. Möglicherweise handelt es sich sogar um Jugendpornografie. Diese Wertung trafen jedenfalls die verantwortlichen Polizeibeamten.

Messerscharf zogen sie folgenden Schluss: Wenn die Bilder noch auf dem Handy der Schülerin sind, dürften sie auch noch bei allen anderen Teilnehmern der Whats-Gruppen auf den Handys sein. Also bejahten die Polizisten einen Anfangsverdacht auf den Besitz von Jugendpornografie.

Gegen jedes Mitglied der Whats-App-Gruppe wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Beamten hätten auch gerne Durchsuchungsbeschlüsse für jedes Gruppenmitglied bekommen. Also wohlgemerkt nicht nur für jene Teilnehmer, die sich mit dem Urheber des Posts irgendwie zu dem Thema ausgetauscht haben (wobei es so gut wie kein Feedback aus der Gruppe gab). Vielmehr sollte alle Gruppenmitglieder morgens um halb sieben Besuch von der Polizei bekommen.

Glücklicherweise kam der Fall zu einem Staatsanwalt, der sich vielleicht fragte, ob er selbst stets und ständig seine Kanäle in den sozialen Medien so toll im Blick hat, dass ihm rein gar nichts entgeht. Jedenfalls entschied er, dass die Betroffenen zwar zur Vernehmung vorgeladen werden sollen. Dabei solle die Polizei aber „schonend“ vorgehen, ggf. die noch auffindbaren Bilder von den Betroffenen löschen lassen und ansonsten für Problembewusstsein sorgen. Am Ende dürfte dann eine eher sang- und klanglose Einstellung des Verfahrens stehen.

Ich persönlich hätte es richtiger gefunden, wenn der Staatsanwalt gleich gesagt hätte, dass ein möglicher Besitzvorsatz doch höchstens bei den Leuten vorliegen erwogen werden kann, bei denen es Anhaltspunkte gibt, dass sie zur fraglichen Zeit online waren und die Bilder womöglich gesehen haben.

Aber nun ja, ihr wisst jetzt, auf welch ebenso zufällige wie simple Art und Weise man als – möglicherweise sogar inaktives – Mitglied einer Whats-App-Gruppe ins Visier der Ermittler geraten kann. Ich wünsche noch viel Spaß…

[ein Beitrag aus dem LawBlog von RA Udo Vetter]

Fischer (BGH)

27. August 2016

FischerSignatur „Man muss seine langen Kolumnen wirklich bis zum Ende lesen, um festzustellen: Einen solchen Beitrag zum rechtspolitischen Diskurs hat es bisher noch nicht gegeben. Er bereitet schwierige Jurathemen populär auf, nur eben nicht als Volkshochschulkurs, sondern als Anleitung zum kritischen Denken. Fischer schreibt mit der intellektuellen Brillanz eines Juristen, der Sinn, Grund und Grenzen des Strafrechts gedanklich durchdrungen hat wie kaum jemand sonst.

Und er formuliert mit einer feuilletonistischen Leichtigkeit, wie sie in der Juristenwelt noch nicht gesehen wurde. Irgendwo zwischen Assoziation und Abstraktion. Er liebt es, die Leser aufs Glatteis scheinbar festgefügter Begriffe zu führen, wie Schuld, Verantwortung, Ehre. Seine Pointen sind wunderbar schräg.

Wahrheit – „ein Begriff, der im Nichts ruht“. Beweis – „ein dreibeiniger Hund in einer Bar am Mittelmeer: ein bisschen guter Wille, zu viel Pastis“. Oder Wahn: Hat jemand, der „Stimmen“ hört, automatisch einen Wahn, fragt er die Leser. „Haben Sie einmal einen Blick in die Bibel geworfen? Erinnern Sie sich, wie viele Stimmen da mal hier, mal da erschallen, aus den blauen Himmeln, einem kleinen Kumuluswölkchen, einem brennenden Dornbusch?…“

Klare Sache: Lesebefehl!