Die Westfälische Wilhelms-Universität im westfälischen  Münster, dem heimlichen Sehnsuchtsort aller klugen Emsländer:innen,  wird in Zukunft keine Debatte mehr über ihren Namen führen müssen, denn der wird bald nur noch „Universität Münster” sein. Der Wilhelm fällt weg, das hat der Senat der Universität am vergangenen Mittwoch zunächst in einer Probeabstimmung entschieden. Dass sich das Ergebnis bis zur endgültigen Abstimmung am 5. April noch ändert, ist unwahrscheinlich.

Zeit zum Nachdenken gab es genug. Mehr als zwei Jahre lang hat die Universität sich in Ausstellungen, Diskussionen oder Veranstaltungen mit der Frage beschäftigt, ob der Kaiser als Namenspatron noch eignet. Das Ergebnis am Ende ist deutlich. Viel spricht laut dem zwölfseitigen Abschlussbericht nicht für Wilhelm. Im Laufe der Untersuchungen kam auch einiges heraus, das vorher entweder nicht bekannt oder vielen zumindest nicht präsent war.

Der Kaiser selbst hatte zum Beispiel offenbar gar kein so großes Interesse daran, der Universität seinen Namen zur Verfügung zu stellen. Es war eher ein Wunsch aus Münster, der sich auch deshalb ergab, weil man sich erhoffte, mit dem Kaiser im Namen leichter an Fördergelder zu kommen. Im ersten Versuch scheiterte Münster. Man vertröstete die Stadt auf den nächsten Kaiserbesuch. Als der schließlich anstand, gab Berlin nach.

Doch als dann 1907 die Veranstaltung stattfand, in der Wilhelms Name verliehen werden sollte, war der Kaiser in Bielefeld (!), um dort ein Reiterstandbild seines Großvaters einzuweihen. Bei seinen späteren Reden während des Besuchs erwähnte er die Uni nicht. Auch danach unterhielt er keine besondere Verbindung nach Münster. Nach seinem Tod gab es immer wieder Debatten.

In den 90er-Jahren entschied man sich dafür, den Namen zu behalten. Vor fünf Jahren brachte eine Initiative von Studierenden die Sache wieder ins Gespräch. Dass die Entscheidung nun gegen Wilhelm ausfällt, liegt allerdings nicht allein an neuen Erkenntnissen und Einschätzungen über sein Wirken, sondern auch daran, dass die Sensibilität für solche Fragen inzwischen größer ist.

Jedenfalls in Münster

Mit Text aus dem sonntäglichen Rundbrief von RUMS

Out of the box

18. Dezember 2022

„Menschen, die Kreativitätsseminare besucht haben, aber selbst nicht kreativ genug sind für eigene Formulierungen, sagen gern Sätze wie: „Wir müssen ‚out of the box‘ denken.“ Die Box ist in dem Fall die Auswahl an gewöhnlichen Vorschlägen, die in der Vergangenheit alles nur schlimmer gemacht haben.

Bei allem, was sich unter dem Begriff Mobilitätswende zusammenfassen lässt, ist zum Beispiel ein großes und bislang ungelöstes Problem, dass in den Innenstädten zu wenig Platz ist. Man könnte so schön breite Gehwege, Radwege und Grünstreifen bauen, wenn am Rand nicht überall Häuser stehen und in der Mitte Autos fahren würden. Wie soll man das lösen?

Man kann den zur Verfügung stehenden Raum umverteilen. Das ist der naheliegendste Vorschlag. Man reißt also die Häuser ab und ersetzt sie durch Radwege, doch dann ziehen die Leute aufs Land und fahren mit ihren Autos in die Stadt, man braucht breitere Straßen. Aber das will man auch nicht. Nimmt man den Autos dagegen den Platz, riskiert man einen Bürgerkrieg.

In Osnabrück, der anderen Stadt des Westfälischen Friedens, hat man daher auch im Sinne der Harmonie im Straßenverkehr ein bisschen „out of the box“ gedacht, und herausgekommen ist: eine Schwebebahn. Ja, genau, eine Schwebebahn – wie man sie aus dem 19. Jahrhundert in Wuppertal kennt. Daher kann man sie auch nicht einfach Schwebebahn nennen, sie braucht einen Namen, der etwas mehr hermacht. Vielleicht  „Flyover”? Nein, sie heißt  „Sunglider”. 

Über den Sunglider spricht man in Osnabrück schon etwas länger. In dieser Woche beschäftigt sich die Wochenzeitung „Die Zeit“ mit der Idee (€) Der Artikel skizziert sie sehr schön in zwei Sätzen. Am Boden sei in den Städten wenig Platz. Also müsse man eine Ebene nach oben gehen.

Die Bahn soll aus dem 3D-Drucker kommen und sich selbst mit Strom versorgen, am Steuer soll eine künstliche Intelligenz sitzen. Schon das würde ein Problem lösen, für das im öffentlichen Personennahverkehr bislang eine Lösung fehlt. Es findet sich kaum noch wer, der die Busse und Straßenbahnen fährt. Aber warum sieht man solche Systeme dann nicht vielfach auf dieser Welt?

„Es muss einen Grund geben, warum wir solche Systeme nicht vielfach auf der Welt sehen“, sagt ein Verkehrsfachmann der Uni München in dem Artikel. Aha. Wir kommen der Antwort also näher.

In den Städten einen „massiven, durchgehenden Fahrweg herzustellen“, das sei eine Herausforderung, sagt der Münchener Verkehrsexperte. In anderen Worten: In den Innenstädten ist zu wenig Platz. Man müsste also gewissermaßen „out of the box“ denken. Und so käme man wieder weg von der Idee einer Schwebebahn.

So weit ist man in Osnabrück allerdings noch nicht. Dort soll der nächste Schritt eine Machbarkeitsstudie sein, die eine Antwort auf die Frage gibt, ob so eine Bahn – Sie ahnen es – überhaupt machbar ist. Und wer weiß, vielleicht ist sie das ja.

Möglicherweise gibt es aber auch noch andere Lösungen…“

[Ein Beitrag von Ralf Reimann in RUMS, der Münsteraner Online-Zeitung, die ich empfehle zu abonnieren]

Wo war das Kreuz 1648?

13. November 2022

„Wo war das Kreuz 1648?“

fragte vorgestern im wöchentlichen RUMS-Brief Sebastian Fobbe. Das Münsteraner Onlinemagazin RUMS hab ich schon früher in diesem Blog empfohlen und diese kleine Geschichte ist schon ausgesprochen fein.

RUMS-Mann Fobbe informiert darin, dass die Stadt Münster jetzt erst einmal den Friedenssaal im Münsteraner Rathaus wieder herrichtet, aber „wie beim G7-Treffen fehlt auch in der Pressemitteilung der Stadt jede Spur von dem Kruzifix, das für eine reichweitenstarke Posse herhalten musste. Mitarbeiter:innen aus dem Auswärtigen Amt ließen das Kreuz aus dem Jahr 1540 beim G7-Treffen bekanntlich entfernen, offiziell aus organisatorischen Gründen.

Das Abhängen ärgerte einige, zum Beispiel die aus Münster stammende CDU-Politikerin Monika Grütters. Sie sagte in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“, sie nehme die Sache mit dem Kreuz als gläubige Christin persönlich. Im Friedenssaal in Münster sei ein „Religionskrieg“ zu Ende gegangen, der „fast die halbe Bevölkerung Europas dahinraffte“. Das Kruzifix sei allein deshalb ein „großartiges Zeichen der Versöhnung“ und ein „Symbol des Friedensschlusses“. Diese „Ignoranz gegenüber unserer Geschichte“ rege Grütters auf. „Wer das nicht versteht, der hätte auch auf den Saal verzichten und in einem Hotelzimmer tagen können“, sagte sie.

Wenn es danach geht (Friedenssaal ja, aber dann bitte nur mit Kreuz), dann sähe ein historisches Gemälde, das von 1648 überliefert ist, ganz anders aus. Der niederländische Künstler Gerard ter Borch schuf damals ein Werk, das den Frieden zwischen Spanien und den Niederlanden festhält und heute noch im Rijksmuseum Amsterdam hängt. Auf der linken Seite ist die niederländische Delegation im Friedenssaal zu sehen, rechts die spanische. Dargestellt sind auch eine Maria im Kronleuchter, ein Kreuz auf einer Bibel und die Nordwand des Friedenssaals, an der das Kruzifix angebracht ist. Nur ist das Kreuz im Gemälde nirgends zu sehen. Auf dieses Detail hatte uns diese Woche eine Leserin aufmerksam gemacht.

Wie kann das sein? Ein Anruf bei Mechthild Beilmann-Schöner. Die Kunsthistorikerin ist Expertin für niederländische Malerei. Sie gibt zu, ihr sei bis zu unserer Anfrage noch gar nicht aufgefallen, dass auf dem Gemälde das Ratskreuz fehlt, blicke aber jetzt „mit anderen Augen“ auf das Bild. Und mit der Frage, warum das so ist, habe sich die Kunstgeschichte vermutlich auch nicht beschäftigt, sagt sie.

Beilmann-Schöner sagt, im 17. Jahrhundert hätten die Maler zuerst Skizzen angefertigt und diese später im Atelier zusammengesetzt. Die Szene und den Friedenssaal hat ter Borch detailgenau wiedergegeben, er selbst war zu der Zeit auch in Münster anwesend – was er selbst damit dokumentiert, dass er sich selbst einfach mit ins Bild gemalt hat.

Aber wo ist das Kreuz geblieben, wenn ter Borch doch Wert auf jedes Detail gelegt hat? Das kann Kunsthistorikerin Beilmann-Schöner nicht sagen. Sie vermutet, es könnte daran liegen, dass an dem Kreuz eine Jesusfigur hängt. In der damaligen Zeit war das für die Katholik:innen in Spanien und Münster kein Problem – wohl aber für die calvinistischen Unterhändler aus den Niederlanden. Dass ter Borch den gekreuzigten Jesus unterschlagen hat, könnte schlicht „eine Neutralitätsgeschichte gewesen sein, wie beim Außenministerium“, mutmaßt Mechthild Beilmann-Schöner. Nach dem Motto: Kein Kreuz im Bild, keinen Ärger.

Der Grund könnte aber auch viel simpler sein: Vielleicht hat Gerard ter Borch das Kreuz nie gesehen, schließlich stehen auf dem Gemälde vor der Nordwand unzählige Männer. Es könnte aber auch sein, dass sie das Kreuz für die Friedensverhandlung kurz abgehängt haben. Wer weiß das schon so genau?“

G7 in Münster

6. November 2022

Das mehr als empfehlenswerte Münsteraner Lokaljournalismus-Projekt RUMS berichtet über das zgerade zu Ende gegangene Außenministertreffen der G7 in Münster:

„Seit 254 Tagen herrscht Krieg in der Ukraine. An diese Tatsache erinnerte Außenministerin Annalena Baerbock am Ende des G7-Treffens in Münster. „Ja, wir zählen jeden einzelnen Tag dieses brutalen russischen Angriffskriegs“, sagte Baerbock auf der Abschlusspressekonferenz. „Denn jeder einzelne Tag dieses Kriegs ist einer zu viel.“

Zwei Tage lang herrschte Ausnahmezustand in der Innenstadt, schließlich hat das G7-Treffen Münster in einen „kleinen internationalen Ort“ verwandelt, wie die Außenministerin sagte. Und in so einem kleinen internationalen Ort ist jede Menge los – Demonstrationen, Verkehrschaos, Absperrungen und eine Posse um ein historisches Kreuz zum Beispiel. Was alles genau passiert ist? Hier ist das Wichtigste:

+++ Zuallererst zur Bedeutung des Treffens: Ein Reporter der Washington Post hat den Westfälischen Nachrichten gesagt, so ein Weltereignis habe es in Münster seit 1648 nicht gegeben. Und natürlich, es ist schön, dass Münster im ZDF-Heute-Journal mal im Hintergrund zu sehen ist. Aber die Frankfurter Allgemeine Zeitung zum Beispiel hat am Donnerstag nicht einmal Platz auf der Titelseite für dieses Weltereignis gefunden. Sie druckt eine etwas längere Meldung auf ihrer zweiten Seite, in der es um die politischen Ergebnisse geht: Die sieben Länder haben sich darauf geeinigt, den Menschen in Ukraine zu helfen, durch den Winter zu kommen. Sie wollen unter anderem mobile Generatoren liefern, Container und Häuser, damit die Menschen nicht frieren müssen. Das ist wohl das wichtigste Ergebnis. (rhe)

+++ Über Wladimir Putin sagte Annalena Baerbock: „Wann immer man denkt, es könne nicht mehr schlimmer gehen, sinkt er noch tiefer in der Unmenschlichkeit.“ Mittlerweile nur noch zu sehen: ein lichter Haarschopf, langsam in Unmenschlichkeit verschwindend. Eine gute Zusammenfassung der politischen Ergebnisse des Donnerstags liefert die Tagesschau. (rhe)

+++ Auf dem Foto von der Arbeitssitzung im Friedenssaal ist deutlich zu erkennen: Hier liegt nicht mehr der Originalteppich. Es sieht ein bisschen aus wie eine Fotomontage. Aber der „Spirit des Friedenssaals“, wie Münsters Oberbürgermeister es nennt, ist immer noch zu erahnen – vor allem, wenn man schräg nach oben auf die Porträts der Teilnehmer von damals schaut, die in diesem Raum über das Ende des Dreißigjährigen Kriegs verhandelt haben. Frauen seien nicht dabei gewesen, auch wenn die Menschen am Verhandlungstisch „damals auch lange Haare hatten“, sagte Annalena Baerbock. Und was natürlich ebenfalls auffällt: Krawatten trugen sie auch nicht. (rhe)

+++ Mit Blick auf die Beziehungen zu China sagte Annalena Baerbock, man werde darüber sprechen, „wie wir Fehler der Vergangenheit, die wir in der Russlandpolitik hatten, nicht erneut wiederholen“. Bundeskanzler Olaf Scholz las diesen Satz möglicherweise im Flieger nach Peking, wohin er 23 Stunden lang unterwegs war, um für zwei Stunden mit Chinas Diktator Xi Jinping zu sprechen. International sorgte die Reise für „Irritationen“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Na ja, Hauptsache, Scholz vertickt bei seiner Reise nicht auch noch den Hamburger Flughafen. Sehr schön auch als Anschauungsobjekt für Interview-Seminare: wie Annalena Baerbock im ZDF-Heute-Journal-Interview den Fragen von Moderator Christian Sievers zu Olaf Scholz wie in einem Slalom-Parcours ausweicht. (rhe)

+++ Der Oberbürgermeister und ein guter Teil der Lokalmedien sind offenbar total happy, dass Münster der Weltpolitik zwei Tage lang als Kulisse dienen darf, aber es gibt auch kritische Meinungen. Die Medienprofessorin Sabine Schiffer zum Beispiel schreibt bei Twitter: „Ich kann mir nicht helfen. Wirkt auf mich wie zu viel der #Inszenierung. Nach dem Ramstein-Format, das Regierungsvertreter auf eine US-Militärbasis in Deutschland einlädt, nun Münster – das auch nicht gerade an großen Kreuzungen liegt – mit geschichtsschwangeren Anspielungen.“ (rhe)

+++ Die Gewerkschaft der Polizei spricht am Donnerstag von einer „guten Stimmungslage in der Stadtgesellschaft“ und einem „normalen Protestklima“, so steht es im WN-Liveticker. Wir schalten kurz rüber zur Stubengasse, wo die Polizei am Donnerstagabend in guter Stimmungslage für etwas Ordnung gesorgt hat. Im Hintergrund hören Sie einen Mann sagen: „Feuer, Männer.“ Ein Frau ruft: „Alter, fass mich nie wieder so an.“ Sonst scheint aber tatsächlich nicht viel passiert zu sein. So steht es jedenfalls in einer „ersten Zwischenbilanz“ der Polizei Münster vom Donnerstagabend. (rhe)

+++ Aber was war alles los auf der Straße? Insgesamt waren an beiden G7-Tagen 13 Demonstrationen bei der Polizei angemeldet, allein heute fanden fünf Kundgebungen statt. Es ging unter anderem um den Krieg in der Ukraine, die Proteste im Iran, die Besatzung von Tibet, aber auch um Klimaschutz. Eine Friedensdemo an der Lambertikirche, bei der der Theologe Eugen Drewermann auftrat, war schlechter besucht als erwartet. Viel los war dagegen bei der Klimademo. Laut Klimabündnis waren 2.500 Protestierende bei der Versammlung, zu der der Physiker Volker Quaschning von den Scientists for Future und der russische Klima-Aktivist Wladimir Sliwjak als Redner eingeladen waren. (sfo)

+++ Nach der ersten G7-Demo hätte man sich aber auch denken können, dass alles relativ ruhig bleibt. Eine Gruppe namens Initiative sozial-ökologischer Wandel hatte zu „Solidarität mit der grün-feministischen Verteidigungspolitik“ und „mit unserer Außenministerin Annalena Baerbock“ aufgerufen. Losgehen sollte es ganz symbolisch um 5 vor 12 Uhr am Stubengassenplatz. Nur: Gekommen war niemand, nicht mal die Gruppe selbst. Im Liveticker berichteten die Westfälischen Nachrichten, eine Person aus Sachsen habe die Kundgebung angemeldet. Eine Sprecherin der Polizei Münster konnte uns das auf Anfrage nicht bestätigen. Dort hatte niemand eine Demo am Stubengassenplatz angemeldet. Mehr als das, was auf der Website der Initiative steht, sei der Polizei auch nicht bekannt. Und was steht da? Die Gruppe bestehe aus Leuten, die aus „Wirtschaft, Social Entrepreneurship und Beratung“ kommen und durch „Networking“ und „Meetings“ „wissenschaftliche Expertise“ und „kreative Lösungen für gesellschaftliche Konfliktfelder“ vorantreiben wollen. Aus der Ukraine solle ein „sozial-ökologisches Musterland“ werden, denn das Land habe „ein modernes Arbeitsrecht, das einen Großteil seiner Mitbürger*innen von einem veralteten, hinderlichen Tarifrecht befreit“. Angesichts dessen stellt der Journalist Sebastian Weiermann auf Twitter die richtige Frage: „Ist das echt oder Satire?“ (sfo)

+++ Der Inhalt verschiedener Liveticker im Überblick: Sieben Menschen, die man aus dem Fernsehen kennt, steigen zwei Tage lang an unterschiedlichen Stellen in der Stadt immer wieder aus Limousinen und verschwinden in Gebäuden. Alles Mögliche ist gesperrt (hier bitte Foto von Absperrungen vor einem Gebäude vorstellen, auf dem sonst nichts zu sehen ist). Menschen in Anzügen laufen geschäftig über den Prinzipalmarkt. Menschen in Uniform stehen irgendwo herum. Ganz viel Trubel im Pressezentrum am Domplatz. Unter jedem Foto könnte stehen: „Wie geil, endlich ist in Münster mal was los.“ Gut, außer vielleicht unter dem hier. (rhe)

+++ Ein auffälliges Phänomen seit Mitte der Woche: Polizeibullis fahren in Kolonnen durch die Stadt, seit Donnerstag auch mit Blaulicht. Klar, wenn überall Kolonnen mit schwarzen Bullis und Limousinen unterwegs sind, weiß kein Mensch mehr, in welchen Fahrzeugen tatsächlich wichtige Menschen sitzen, und wenn man ein Attentat plant, ist das natürlich eine Katastrophe. Andere mögliche Erklärung: „Wenn die anderen mit Blaulicht fahren, stellen wir unseres garantiert nicht aus.“ (rhe)

+++ Donnerstag, 16.15 Uhr, Aufregung am Servatiiplatz: Ein Koffer steht herum. Die Polizei sperrt den Platz (noch mehr Sperrungen!), ein Bombenentschärfungsteam und ein Sprengstoffspürhund schauen sich den Koffer an. 38 Minuten vergehen. Um 16.53 Uhr dann die explosive Nachricht: Im Koffer liegt Kleidung. (sfo)

+++ Donnerstag, 16:47 Uhr: Die Gespräche im Rathaus laufen. WDR-Reporter Henry Bischoff sagt, es gehe vor allem um die Ukraine. Man könne auch „so etwas wie Ergebnisse“ erwarten. Eine ganz wundervolle Formulierung. (rhe)

+++ Okay, ein bisschen Klatsch, meinetwegen: Am Freitagmorgen ist Annalena Baerbock in Münster Joggen gegangen, berichtet die „Bild“-Zeitung. Wie sagt man doch in Westfalen: Wer laufen kann, kann auch arbeiten. (rhe)

+++ Wie die Instagram-Seite Münster Dings übrigens schon am Mittwoch aufdeckte, hat jemand aus dem Social-Media-Team des Auswärtigen Amts allen Ernstes eine Fahrradfahrt über den Prinzipalmarkt gefilmt – vom Fahrrad aus, mit dem Smartphone in der Hand. Darauf stehen saftige 55 Euro Strafe. Welche Konsequenzen sonst drohen können, sehen Sie im Beweisvideo. Das zeigt wieder einmal: Investigativer Journalismus tut auch im Lokalen not. (sfo)

+++ Wo wir beim Verkehr sind: In der Innenstadt ist es gestern und heute Vormittag zu etlichen Staus gekommen. Einerseits wegen der Demonstrationen. Andererseits weil Menschen mit ihren Autos einen Schleichweg über die Achtermann- und Herwarthstraße nehmen wollten, was aber nicht ging. Da war nämlich alles gesperrt, weil im angrenzenden Atlantic-Hotel das Auswärtige Amt eingecheckt war. (sfo)

+++ Verpflegung I: Der Koch im Mövenpick-Hotel hatte sich offenbar schon gefreut, dass er endlich mal zeigen kann, was er kann, wenn die Staatsgäste kommen. Unglücklicherweise hatten die ihre eigenen Vorstellungen. Sie wünschten sich Burger mit Pommes, berichtet der WDR im Radio. (rhe)

+++ Verpflegung II: Der seit dieser Woche prominente Sternekoch Laurin Kux aus dem Restaurant „Brust oder Keule“ an der Melchersstraße hat sechs Wochen lang am Menü für die Staatsgäste gefeilt, berichtet der WDR in seiner Lokalzeit. Das Ergebnis: Burger mit Pommes. Nein, Scherz. Es gab unter anderem „Ratsherrenplatte mit westfälischen Wurstspezialitäten, Griebenschmalz und Spreegurke, Münsterländer Gänsekeule mit Apfelrotkohl, Westfälischer Nudelauflauf von Karotte, Lauch und Kürbis“, schreiben die Westfälischen Nachrichten. (rhe)

+++ Scharfschützen am Fenster, die Polizei eskortiert Menschen auf dem Prinzipalmarkt zum Einkaufen: Die WDR-Lokalzeit gibt in einem drei Minuten langen Beitrag einen guten Eindruck davon, was am Donnerstag in der Stadt und in der „letzten Backstube vor der Sicherheitszone“ los war. (rhe)

+++ In einer Liveschalte vom Domplatz erzählt die WDR-Reporterin Andrea Hansen am Donnerstag von dem Eindruck, den sie bei einer Podiumsdiskussion mit Annalena Baerbock und ihrem US-amerikanischen Kollegen Antony Blinken bekommen hat. Sie sagt, da habe sie auch Zweifel gehört – ob man wirklich alles richtig gemacht habe, ob man schnell genug reagiert habe. „Und da habe ich gedacht: Wenn von diesem Zweifel, von dieser Gewissheit, eben nicht immer alles vorher zu wissen oder richtig zu machen, auch ein bisschen auf der Straße ankäme, dann wären vielleicht manchmal die Fronten nicht so verhärtet.“ Und das ist doch ein wirklich guter Gedanke. (rhe)

+++ Stundenlange Verhandlungen sind nicht gut fürs Kreuz. Den Beweis liefert nun das G7-Treffen. Das knapp 500 Jahre alte Ratskreuz, das im Friedenssaal eigentlich hinten in der Holzwand steht, ist verschwunden, wie auf Fotos zu sehen ist. Warum? Das Außenministerium hat gebeten, es für die Dauer des Treffens zu entfernen, berichten die Westfälischen Nachrichten. Und wenn man sich die offiziellen Fotos anschaut, ist das auch gut zu verstehen. Bilder sind Botschaften. Wäre das nicht so, würde das Treffen gar nicht in Münster stattfinden. Mit dem Kreuz im Hintergrund über den Köpfen würde es aussehen, als wären alle im Namen der katholischen Kirche zusammengekommen, um ein paar kritische Worte an das Mullah-Regime im Iran zu richten. Die Stadt hat auf das Ratskreuzgate inzwischen hochoffiziell mit einer Pressemitteilung reagiert. Oberbürgermeister Markus Lewe sagt, er meine, „diese Entscheidung hätte so nicht getroffen werden dürfen, und ich bedaure sie”. CDU-Ratsfraktionschef Stefan Weber schreibt ebenfalls in einer Pressemitteilung, er hätte von der Außenministerin mehr Respekt erwartet. Auf der „Bild“-Startseite ist es am Freitagmittag die Topmeldung. In der Dachzeile steht: „Gottloses G7 in Münster“. Da kann man eigentlich nur sagen: Oh Gott, oh Gott, oh Gott. (rhe)

+++ Aber was sagt eigentlich Annalena Baerbock zu der Kreuzposse? Auf der Abschlusspressekonferenz haben die Westfälischen Nachrichten nachgefragt, weil die Debatte die wichtigen politischen Themen überlagert habe. Baerbocks Antwort: „Ich bedaure das sehr.“ Sie habe von der Kreuzabhängung erst erfahren, als sie heute Morgen mit Markus Lewe im Friedenssaal stand. Baerbock wolle sich nicht wegen eines „Orga-Dings“ streiten, versprach aber, in Zukunft genauer auf die Ausstattung von Austragungsorten zu achten. (sfo)

+++ Nach den üblichen Aufmerksamkeitsmechanismen wird also von diesem G7-Treffen vermutlich vor allem hängen bleiben, dass das Kreuz nicht hängen bleiben durfte. Dabei gab’s am zweiten Tag des Treffens auch noch andere Themen: Es waren zum Beispiel Gäste aus Afrika da, unter anderem Kenias Außenminister Alfred Mutua und Ghanas Außenministerin Shirley Ayorkor Botchwey. (rhe)

+++ Und zum Schluss noch mal zurück zur Politik: Die sieben Außenministerinnen und Außenminister haben Russland heute in einer gemeinsamen Erklärung davor gewarnt, in der Ukraine Atomwaffen einzusetzen, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Unter anderem in Richtung Iran hieß es, Länder, die Russland unterstützen, müssten mit Sanktionen rechnen. Den Wiederaufbau der kritischen Infrastruktur der Ukraine, also vor allem das Energie- und Wassernetz, wollen die sieben Länder laut ihrer Erklärung gemeinsam koordinieren. (rhe)


Mit Dank an die Münsteraner RUMS-Macher aus ihrer freitäglichen Wochen-Rundmail. Auch ohne G7 ist das Projekt ein Hingucker und ein Abo oder / und allemal ein Geschenk wert.

Springer-Medien

20. Juni 2021

Georg Thiel weigert sich hartnäckig, seinen Rundfunkbeitrag zu bezahlen. Damit ist er zwar nicht allein; immer wieder wollen oder können Menschen den Beitrag nicht leisten, der seit 2013 für alle Bürger:innen verpflichtend ist. Georg Thiel aber ist es gelungen, dass jetzt bundesweit über ihn berichtet wird

An der Gartenstraße in Münster (Westfalen) sitzt der Mann nämlich seit dem 25. Februar im Gefängnis, weil er gerne bekannt werden möchte. Das hat auch schon ganz gut funktioniert. Die Bild am Sonntag hat über ihn berichtet. Das wird hier nicht verlinkt. In der letzten Woche hat auch die Welt ein Interview mit ihm veröffentlicht. Da mache ich mal eine Ausnahme. Doch natürlich wird auch hier dazu beigetragen, dass Georg Thiel noch bekannter wird, wenn über ihn geschrieben wird.

Aber, informiert RUMS, die Online-Nachrichtenseite aus Münster (abonnieren!),  „wir tun ihm nicht den Gefallen, die Geschichte nur so zu erzählen, wie er es gern hätte. Er möchte gern als Rebell gesehen werden, der vom Staat ins Gefängnis gesteckt wurde, weil er sich nicht zwingen lassen will, den Rundfunkbeitrag zu zahlen. Und diese Variante gefällt den Springer-Medien, denn sie machen immer gern mit, wenn’s darum geht, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eins auszuwischen.

Thiel hätte seine Inhaftierung selbst verhindern können. Er hätte dafür nicht einmal die Beiträge plus Bußgelder begleichen, sondern bloß seine Vermögensverhältnisse offenlegen müssen. Dann hätte ein Gericht entscheiden können, was zum Ausgleich der geschuldeten Beiträge pfändbar wäre – und ob es überhaupt Vermögen gibt.

Aber das wollte Thiel nicht, und er will es auch weiterhin nicht. Würde er aber sein Vermögen offenlegen, könnte er seine Zelle sofort wieder verlassen, wie das Medien-Magazin Übermedien hier erklärt. Dann würde aber natürlich niemand mehr berichten…

Nachtrag: Bevor hier wieder über die GEZ geschwafelt wird. Die GEZ gibt es seit 2013 nicht mehr.

(Quellen: RUMS/Uebermedien/Welt)

vermeintliche

9. November 2020

Rums., der neue Journalismus aus Münster,  informiert:
Einige Eltern, Schulleiter- und Schulleiterinnen, Lehrer und Lehrerinnen dürften dem heutigen Montag mit einer gewissen Anspannung entgegensehen. Das NRW-Schulministerium hat am Mittwoch mit einer offiziellen E-Mail davor gewarnt, dass die Gruppe „Querdenken 711“ am Montag vor 1.000 Schulen in ganz Deutschland Aktionen gegen die Maskenpflicht plane; zur Einordnung: In Deutschland gibt es insgesamt gut 32.000 allgemeinbildende Schulen.
Mitglieder und Sympathisantinnen der Gruppe würden unter anderem unwirksame Masken verteilen und möglicherweise dazu auffordern, gar keinen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Die Nachricht verbreitete sich nicht nur in Nordrhein-Westfalen. Viele Zeitungen, Radio- und Fernsehsender berichteten darüber, zum Beispiel hier und hier.

Am vergangenen Donnerstagabend hieß es dann : Stimmt gar nicht, alles nur Fake, die „Querdenker:innen“ planen gar nichts. Die Gruppe schreibt in einer Pressemitteilung: „Es gibt keine Aktion am 09.11.2020. […] Bei der Aktion handelt es sich um einen Test unserer Kommunikationsstrukturen. Wir werden immer wieder vor einer Unterwanderung gewarnt.“ Sprich: Angeblich haben sie die Nachricht nur intern rausgegeben, um zu gucken, ob und wo sie durchsickert. Viele Schüler und Schülerinnen werden sich am Montag auf dem Schulweg trotzdem sehr unwohl fühlen – und viele Eltern werden zur Sicherheit vielleicht trotzdem mitgehen und die Augen offenhalten.

Bevor ich[, Constanze Busch,] erkläre, warum die Pressemitteilung von „Querdenken 711“ Blödsinn ist -das ist sie nämlich-, sollten wir uns anschauen, mit wem wir es überhaupt zu tun haben.

„Querdenken 711“ ist die Stuttgarter Ortsgruppe der „Querdenken“-Bewegung (die Zahl steht für die Stuttgarter Telefon-Vorwahl), die seit Monaten gegen die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung demonstriert. Sie ist gewissermaßen sogar die Keimzelle, „Querdenken“ wurde im Frühjahr 2020 von dem Unternehmer Michael Ballweg in Stuttgart gegründet (gestern am Sonntag kandidierte er dort übrigens bei der Oberbürgermeisterwahl und erhielt „machtvolle“ 3%). Unter dem Dach dieser Bewegung versammeln sich auch Rechtsradikale und Verschwörungsideolog:innen. Zuletzt drohten einige Mitglieder einem Polizisten mit Mord .

Wie diese Leute drauf sind, lässt sich gerade auch in Sachsen und Thüringen beobachten. „Querdenken 711“ und die Leipziger Gruppe „Querdenken 341“ haben in Leipzig für den morgigen Samstag eine Demonstration angemeldet , zu der Tausende Teilnehmer:innen aus ganz Deutschland erwartet werden [mehr…]. Kurz vorher, am Mittwoch, haben Mitglieder der Bewegung in sozialen Medien die Privatadresse von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow veröffentlicht, der „Querdenken“ vorher scharf kritisiert hatte. Am Mittwochabend fand Ramelow vor seiner Haustür eine Grabkerze und einen Flyer zur „Querdenken“-Demo. Dem Tagesspiegel sagte der Ministerpräsident, er fühle sich bedroht und unter Druck gesetzt. Außerdem wohne in dem Mehrparteienhaus, in dem er lebt, auch eine Familie mit kleinen Kindern.

Mit diesem Wissen im Hinterkopf kommen wir jetzt zurück zur vermeintlichen Schul-Aktion der „Querdenker:innen“ und zu ihrer absurden Presseerklärung.

„Querdenken 711“ wollte natürlich nicht die „Kommunikationsstrukturen“ auf Lecks testen. …Die Gruppe will eben … Aufmerksamkeit – und hat sie (leider) bekommen. Denn: Es geht um Kinder. Und um die Gesundheit. Die Vorstellung, dass mitten in der zweiten Pandemie-Welle krude Corona-Skeptiker:innen auf der Straße Schüler:innen ansprechen und sie dazu drängen könnten, ihre Masken abzunehmen, weckt bei vielen Menschen einen Beschützerinstinkt – nicht nur bei Eltern. Wir werden wütend, der Puls steigt, wir empören uns. Kinder bedrängen, das geht gar nicht. Und schon ist die Aufmerksamkeit maximal hoch, selbst wenn (oder gerade weil) die Gruppe die Ankündigung im Nachhinein als Falschmeldung bezeichnet.

Und dann ist da noch das Datum der angeblichen Aktion. Der 9. November ist so ziemlich der sensibelste Termin, den man sich in Deutschland für etwas Politisches aussuchen kann. Und damit betreiben die Organisator:innen der „Querdenken 711“-Bewegung ein nahezu perfektes Framing : Das Datum steht für die Erinnerung an die Reichspogromnacht und für den Mauerfall. Egal, an welches dieser Ereignisse Sie zuerst denken, es ordnet die Ankündigung der „Querdenker:innen“ automatisch in einen historischen Rahmen ein. Wir verbinden den 9. November mit bedeutenden Ereignissen. Also muss auch die vermeintliche Aktion an den Schulen irgendwie bedeutend sein, positiv oder negativ. Das sollen wir jedenfalls denken. Falls Sie mir nicht glauben, probieren Sie es aus: „Am Montag wollen ‚Querdenker:innen‘ gegen die Maskenpflicht demonstrieren.“ Oder: „Am 9. November wollen ‚Querdenker:innen‘ gegen die Maskenpflicht demonstrieren.“ Na?

Hätte ich Ihnen das alles gar nicht schreiben sollen?

Natürlich haben auch Journalist:innen wie wir dazu beigetragen, die Nachricht zu verbreiten – und den „Querdenker:innen“ damit eine Bühne geboten. Ich habe deshalb heute Morgen lange überlegt, ob ich Ihnen überhaupt zu dem Thema schreiben soll – oder ob es besser in einer Meldung aufgehoben wäre, damit die Bühne möglichst klein bleibt. In diesem Dilemma stecken wir und unsere Kolleg:innen immer wieder, zum Beispiel bei der Berichterstattung über die AfD. Wir können nicht nicht berichten. Aber wenn wir es tun, tragen wir unweigerlich auch gefährliche Thesen weiter. Denn bevor wir solche Ideologien widerlegen und auseinandernehmen können, wie ich es in diesem Text versucht habe, müssen wir sie ja erstmal wenigstens kurz wiederholen.

Haben wir all dem dann widersprochen, passiert leider das, was der Autor Sascha Lobo in diesem sehr klugen Text als „Windrad-Prinzip“ beschrieben hat: „Wie ein Windrad lebt die AfD-Sphäre vom Gegenwind. Sie zieht ihre Energie aus der Empörung der Gegenseite und verwandelt sie in eine Form sozial ansteckender Identifikation. Das Gemeinschaftsgefühl besteht primär daraus, dass sich die richtigen, als Feinde begriffenen Leute auf die richtige Weise empören.“ Dem ist wenig hinzuzufügen, denn der Mechanismus „Wir gegen die“ lässt sich genau so auch bei den „Querdenkern“ beobachten.

Wie Sie gemerkt haben, habe ich mich trotzdem entschieden, ausführlich über die Schul-Aktion zu schreiben. Nicht nur, weil ich darauf vertraue, dass unter Ihnen, den RUMS-Leser:innen, keine „Querdenken“-Sympathisant:innen sind, die sich durch meine Einordnung erst recht angestachelt fühlen dürften. Sondern auch, weil ich es wichtig finde, die Hintergründe zu kennen, um die Aktion zu verstehen und sie einzuordnen. Es soll eben nicht bei einem aufgeregten „Die wollen unsere Kinder bedrängen“ bleiben. Ich finde es wichtig, zu verstehen, dass solche Leute anderen Menschen Angst machen wollen, und wie sie das erreichen – Grablichter, Kinder, Morddrohungen. Mit diesem Wissen lassen sich auch die nächsten Nachrichten zu den „Querdenkern“ besser einordnen.

Falls übrigens am Montag wider Erwarten doch einige Mitglieder der Bewegung vor der Schule Ihres Kindes auftauchen sollten: Lassen Sie sich nicht einschüchtern und rufen Sie im Zweifel die Polizei….


Ein Beitrag von Constanze Busch im Münsteraner Magazin Rums.

RUMS

6. Oktober 2020

Mit RUMS kommt in Münster ein ambitioniertes Lokaljournalismus-Projekt aus der Start-Phase. 

Christian Humborg ist einer der Gründer:innen von RUMS – Neuer Journalismus für Münster”. Er ist in Münster geboren und aufgewachsen und lebt seit über 20 Jahren in Berlin. Er twittert unter @chumborg.  und gibt in diesem netzpolitk-Beitrag Einblicke in das publizistische Experiment:

Viele Menschen verbinden mit Münster eine beschauliche, konservative Stadt, in der vor langer Zeit der Westfälische Frieden geschlossen wurde, andere verbinden Münster mit Fahrraddiebstählen. Münster überrascht aber als Ort eines neuen journalistischen Projektes. Im März haben wir RUMS – Neuer Journalismus für Münster als kostenlosen Newsletter gestartet. Zweimal die Woche erfahren die Leser:innen in einem als Email versendeten Brief, was in der Stadt passiert ist und vor allem warum, sie lesen Recherchen und Analysen zur Stadtpolitik, aber auch über Ausstellungen, Restaurants und ungewöhnliche Geschichten des Alltags. Eines der Vorbilder war der seit Jahren beim Tagesspiegel erscheinende Checkpoint-Newsletter. Im Laufe der Zeit sind größere Recherchen auf der Website hinzugekommen sowie Podcasts der “Briefe”.

Brinkbäumer, Polenz, Reemtsma und Weisband sind dabei

Jeden Sonntag erscheint zudem per Email eine Kolumne von einer oder einem der Kolumnist:innen: Carla Reemtsma, Mitgründerin der Fridays for Future-Bewegung, die in Münster studiert; Marina Weisband, Psychologin und ehemalige Geschäftsführerin der Piratenpartei, die in Münster lebt; Klaus Brinkbäumer, Autor für Tagesspiegel und ZEIT, ehemaliger Spiegel-Chefredakteur, der in Münster geboren und aufgewachsen ist und jetzt in New York lebt; Ruprecht Polenz, Goldener Blogger 2020 und ehemaliger Generalsekretär der CDU, der in Münster lebt.

Der Lokaljournalismus ist krank

Mit unserem Angebot reagieren wir auf eine Entwicklung, die es seit langem überall gibt und die RUMS-Redakteur Ralf Heimann in einem seiner Briefe beschrieben hat: “Der Lokaljournalismus ist krank. Der Niedergang hat vor knapp 40 Jahren begonnen, ungefähr zeitgleich mit dem Start des Privatfernsehens. Später kam das Internet hinzu und verschärfte die Probleme. Die Verlage verstanden zu spät, dass ihr Leiden nicht einfach wieder verschwindet. In den vergangenen 30 Jahren verloren die deutschen Tageszeitungen etwa die Hälfte ihrer Gesamtauflage.”

Heimann stellt fest, dass bei immer kleiner werdenden Redaktionen immer weniger Journalist:innen immer mehr arbeiten müssen. Das bedeutet für ihn, dass sie auf einen wichtigen Teil der Arbeit verzichten müssen: die Recherche. Er schreibt: “Sie geben das wieder, was ihnen auf Pressekonferenzen gesagt wird, statt noch wen anders zu fragen, ob das alles wirklich so stimmt. Sie checken Fakten nicht gegen, denn das dauert manchmal genauso lange wie die Arbeit an einem Beitrag. Oft erscheinen einfach Pressemitteilungen. Den Journalist/innen kann man das kaum vorwerfen. Sie müssen sich mit den Umständen arrangieren.”

Auf Münsters Medienmarkt ist Platz genug

Ralf Heimann Beschreibung trifft auch viele Städte und eben auch auf Münster zu. Seit sechs Jahren gibt es dort nur noch ein Verlagshaus, das Tageszeitungen herausgibt: den eigenen Titel “Westfälische Nachrichten” und die 2014 aufgekaufte und inzwischen als sogenannte Zombiezeitung betriebene “Münstersche Zeitung”, deren Redakteur/innen und Inhalte nahezu identisch sind. Das Monatsabo kann innerhalb eines ähnlichen Webseitendesigns einmal in rot für 41,90 Euro und einmal in blau für 40,90 Euro im Monat gebucht werden. Der Chef des Verlags ist auch Präsident der IHK Münster und Vorstandsvorsitzender des Vereins der Kaufmannschaft in Münster. Kein Wunder, dass sich auch viele Entscheidungsträger:innen in der Stadt Vielfalt und Unabhängigkeit im Journalismus wünschen. Daneben gibt es einige kleinere Titel oder Websites, die mal regelmäßig und unregelmäßig, mal werbefinanziert, mal nicht, für Nachrichten und Einordnungen sorgen, aber kein Medium, das nachhaltig finanzierten lokalen Recherchejournalismus anbietet.

Wir sind fest davon überzeugt, dass es genug Sehnsucht und Interesse an verlässlichem lokalen Journalismus gibt. Allein wenn wir uns eine spezielle Zielgruppe anschauen: In Münster studieren rund 60.000 Menschen an der Universität und der Fachhochschule. Wir waren auch überzeugt, dass es eine Zahlungsbereitschaft gibt, eben für diesen anspruchsvollen, unabhängigen Journalismus. Daher haben wir von Anfang an klar gemacht, dass wir RUMS nicht durch Werbung, sondern durch Beiträge der Leser:innen finanzieren wollen, denn Werbefreiheit ermöglicht Unabhängigkeit. Schon beim Start und im weiteren Verlauf haben wir immer wieder klar kommuniziert, dass RUMS ab September kostenpflichtig werden würde.

Die Konversionsrate von 26% ist enorm

Am 1. September war es dann soweit. Die bisherigen rund 3.400 Lese:innen wurden eingeladen, ein monatliches Unterstützungsmodell zu wählen, zwischen 8 Euro (Standard), 15 Euro (Idealistisch) und 40 Euro (Großzügig). Studierende, Schüler:innen, Azubis und Arbeitslose können mit 4 Euro dabei sein. Am 30. September zahlten rund 900 Personen – damit kann sich RUMS selbst tragen. Was Medienmacher:innen aufhorchen lässt, ist die Konversionsrate. 26 Prozent der bisherigen Leser:innen haben sich dafür entschieden, für RUMS zu bezahlen. Das ist enorm und innerhalb des Medienmarktes ein extrem hoher Wert. Im Wikipedia-Artikel zu Konversion (Marketing)” heißt es: “Maximale Konversionsraten liegen bei ca. 10 Prozent, große Medienhäuser sprechen oft von niedrigen einstelligen Konversionsraten”. Warum es so gut funktioniert? Neben der beschriebenen Sehnsucht nach einem weiteren Medium in der Stadt mutmaßen wir, dass die Leser:innen vor allem die Unabhängigkeit und die Qualität der Arbeit schätzen.

RUMS ist ein Sozialunternehmen

Hinter RUMS stehen zehn Gründer:innen, überwiegend aus Münster, die ihre Investition wahrscheinlich nie zurück erhalten werden, denn mindestens 90% eines möglichen Gewinns, von dem RUMS weit entfernt sind, werden in das Unternehmen zurückfließen. Wir werden in den nächsten Jahren um das weitere Wachstum kämpfen müssen. Wir haben uns bewusst gegen die Gemeinnützigkeit entschieden, weil uns die rechtliche Unsicherheit und die Abhängigkeit vom lokalen Finanzamt zu hoch erschien. Wir stehen für Public Interest Journalism, lokalen Journalismus über Fragen von öffentlichem Interesse. Diesen braucht jede Stadt genauso wie Schulen, Krankenhäuser, Wasser- und Internetversorgung.

Zur zentralen Bedeutung eines lokalen Journalismus für die Demokratie sei erneut RUMS-Redakteur Ralf Heimann zitiert: “Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass in Nachrichtenwüsten die Wahlbeteiligung zurückgeht. Es gibt Hinweise darauf, dass die politische Polarisierung dort zunimmt, wo Lokalmedien fehlen. Das zivilgesellschaftliche Engagement scheint dort größer zu sein, wo es lokale Medien gibt. Dafür gibt es ebenfalls wissenschaftliche Belege. Es ließ sich zeigen, dass Kommunen mehr Geld ausgeben, wenn Lokalmedien fehlen, weil Lokalpolitiker Ausgaben eher durchwinken, wenn ihnen niemand auf die Finger schaut. Auch das haben Forscher untersucht. Sie haben sogar einen Zusammenhang zwischen der Umweltverschmutzung und der lokalen Berichterstattung belegt.”

Das “vielleicht spannendeste und ambitionierteste Lokaljournalismus-Projekt” in Deutschland

RUMS reiht sich ein in rein digitale journalistische Start-Ups, die nicht aus den bisherigen Verlagen entstanden sind, wie CORRECTIV, finanztip, Krautreporter, netzpolitik.org und perspective daily (zufällig auch in Münster beheimatet). Beispiele dieser Start-Ups auf lokaler Ebene sind die Prenzlauer Berg Nachrichten und das Lokalblog Nürnberg. Der viel für die Süddeutsche Zeitung tätige Medienjournalist Simon Hurtz hält RUMS für das vielleicht spannendste und ambitionierteste Lokaljournalismus-Projekt, das es derzeit in Deutschland gibt.


Gefunden auf Netzpolitik.org unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.