Verspätung
18. September 2022
Bahnreisende aus dem Emsland, die in Rheine in die DB-Züge umsteigen, erleben seit Jahren, dass die Bahn auf dieser Ost-West-Achse immer noch alte Intercity-Züge aus den 1970ern einsetzt, inzwischen ein paar Mal renoviert. Gut ist anders.
Mitte der Woche hat jetzt die Deutsche Bahn in Berlin den neuen „ICE L“ vorgestellt. Das „L“ beim neuen ICE stehe für „low floor“, also „Niederflur“, erklärte Bahnvorstand Dr. Michael Peterson. Eingesetzt werden soll der im Normalbetrieb knapp 260 m lange Zug zuerst auf der Strecke zwischen Amsterdam und Berlin.
Angekündigt waren die neuen, unter dem Projektnamen ECx projektierten Züge bereits für das kommende Jahr. Aber es kommt wie so oft bei der Bahn – später: Erste, der vom spanischen Hersteller Talgo gebauten Komplett-Züge rollen wohl erst im Oktober 2024, also in zwei Jahren. Für alle Verbindungen stehen genügend Züge erst 2025 zur Verfügung. Dann soll auch der anachronistische Halt mit Lokomotivwechsel in Bad Bentheim (hier in Echtzeit) entfallen. Er ist der unterschiedlichen Stromversorgung der Lokomotiven in den Niederlanden und in Deutschland und wohl auch der bundespolizeilichen Grenzkontrolleritis geschuldet. Die ICE L-Lok soll künftig beide Stromsysteme „können“.
Der neue ICE-L-Zug besteht aus der „Mehrsystemlok“ und 17 Reisezugwagen inklusive Steuerwagen. Sie bieten insgesamt 562 Sitzplätze, davon 85 Sitzplätze in der 1. Klasse und 477 Sitzplätze in der 2. Klasse. Die ICE-L erreichen eine Höchstgeschwindigkeit von 230 km/h. Diese Spitzengeschwindigkeit kann bisher nur auf dem Streckenabschnitt östlich von Hannover gefahren werden. Über den Ausbau der Bahnstrecken in NRW und Niedersachsen wird noch diskutiert; Beschlüsse fehlen, vom Ausbau selbst ganz zu schweigen. Es bleibt daher die Gesamtreisezeit von rd 6 Stunden, die vor allem die niederländische Bahngesellschaft NS seit langem für deutlich zu lang hält, um Reisende vom Flieger in den Zug zu bekommen. Aber solange in Bad Bentheim, Rheine, Ibbenbüren, Bünde, Bad Oeynhausen, Minden usw noch gehalten wird, bleibt es auch so.
Die neuen Züge setzen mit ihrem stufenlosen, niedrigen Zugang neue Bahn-Maßstäbe in Sachen Barrierefreiheit. Ältere und Gehinderte wird es zu recht freuen. Pro Zug gibt es allerdings nur drei Rollstuhlplätze und vor allem nur ein einziges rollstuhlgerechtes WC. Funktioniert dies nicht, können Rollstuhlfahrende sehen, wo sie bleiben. Die Sitze sollen noch entwickelt werden, lese ich. Insbesondere für groß gewachsene Niederländer:innen wäre dazu angesichts der wirklich unbequemen, schmerzenden Sitze für größere Menschen in neueren ICE auch dringend anzuraten; denn durch sie bekommt der Begriff 2. Klasse eine reale Bedeutung.
Übrigens: Wenn der Amsterdam-Berlin-Zug künftig an weniger Haltestellen stoppt und die Fahrzeit daher abnimmt, wird es für die umsteigenden emsländischen Reisenden keineswegs schneller. Im Gegenteil: Sofern der ICE L überhaupt noch in Rheine anhält, was keineswegs sicher ist, dürfen wir bei unveränderten Ankunftszeiten der Zubringerzüge aus und in Richtung Norden die beiden Bäckereicafés im Rheinenser Bahnhof deutlich länger frequentieren. Der Ost-West-Zug ist nämlich schon durchgefahren, wenn der Emsland-RE15 einläuft. Also muss man eher anfahren, und es droht so eine längere Gesamtfahrzeit; es könnten auf Bahnreisende solche Wartezeiten kommen wie gegenwärtig auf dem Weg nach Oldenburg in Leer(Ostfr). Das hat sich bei unseren so autoorientierten Entscheidungsträgern im Emsland noch nicht herumgesprochen. Noch wäre Zeit, aktiv zu werden. Spoiler: Auch die nach Hannover und Berlin reisenden MdB und MdL aus der Region könnten ureigenste Interessen haben, dass alles nur gut gemeint ist aber letztlich auf diese Weise schlechter wird.
Ich fasse zusammen:
Der Fortschritt kommt, allerdings einmal mehr als Schnecke, streift das Emsland nur ganz im Sünden und für den Umstieg in Rheine (Gleis 2 nach Osten oder Gleis 4 nach Westen), kann zu längeren Gesamtfahrzeiten führen und ist nicht redundant – aber man könnte besser sitzen als zurzeit. Das aber ist noch offen.