wahrscheinlich jedoch nicht
27. Dezember 2021
Eine neu initiierte Sammelbewegung reklamiert Zuwachs: Den „Freien Niedersachsen“ folgen mittlerweile knapp 17.000 auf Telegram. Natürlich gibt es da eine Flächenumverteilung und Telegram-Zulauf aus Sachsen, Thüringen und anderen Landstrichen, in denen bekanntlich die Impfquote besonders niedrig und die Zahl freidrehender Schwurbler und Corona-Infizierter hoch ist.
Nach dem Vorbild der von rechtsextremen Kadern initiierten „Freien Sachsen“ ist seit Anfang des Monats auch in Niedersachsen eine Mobilisierungs- und Informationsplattform entstanden, die mit eigenen Beiträgen auch inhaltliche Spitzen setzt. Der NDR etwa sei eine „Propagandamedienanstalt“, der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) ein „Möchtegern-Kaiser“ und „Despot“. Nach Darstellung der „Freien Niedersachsen“ selbst folgen Tausende ihren Aufrufen zum Protest.
Bereits eine Woche vor Weihnachten erschienen in den NOZ-Ausgaben für Meppen und Papenburg Hinweise auf unangemeldete Demonstrationen sog. „Spaziergänge“ der freidrehenden Schwurbler der Region. „Wer dieses Treffen organisiert und ob es sich dabei um eine feste Gruppe oder einzelne Personen handelt, ist unklar.“ Bislang sei keine organisierte Gruppenstruktur erkennbar, antwortete ein Sprecher der Polizeiinspektion Emsland/Grafschaft Bentheim (PI) auf Nachfrage der „Meppener Tagespost“ (MT). Dafür, dass die Treffen in Meppen und Haren von derselben Gruppe organisiert worden sind, gebe es ‚keine konkreten Hinweise“. „Ein polizeiliches Einschreiten wird wahrscheinlich jedoch nicht immer erforderlich sein.“ zitierte die Meppener Tagespost de Polizeisprecher
Dass die Kräfte der PI offenbar nicht in der Lage sind, die organisierte Struktur hinter diesen „Spaziergängen“ zu erkennen, kennt man schon aus Sachsen, Thüringen und anderen östlichen Bundesländern zur genüge. Dort wurde die Polizei immer wieder von „Spaziergängern“ an der Nase durch die Manege gezogen. Spazieren geht dort nämlich niemand. In Wahrheit handelt es sich um organisierte Demonstrationen, die dem Demonstrationsrecht und den aktuell geltenden Corona- und Hyiegeneverordnungen unterliegen.
Am vergangenen Montag „spazierten“, laut eigenen Angaben nun genau 63 Menschen -tatsächlich waren es etwa die Hälfte – mit Lichtern und Kerzen durch Lingen, unter anderem über den Konrad-Adenauer-Ring bis zum Neuen Rathaus. Ohne Masken, ohne Mindestabstände, ohne Polizei – aber mit einem Warnwesten gesicherten Posten am Ende des Zuges; so wirklich wollte man sich dann doch nicht selbst gefährden. Dass mit masken- und abstandslosen Demonstrationen andere gefährdet werden, war egal.
Vor dem Eingang des neuen Rathaus stellten die Schwurbler dann ihre knapp 30 Kerzen ab, die angesichts von inzwischen 39 Corona-Toten in unserer Stadt vielleicht besser vor einem der lokalen Friedhöfe hätten aufgestellt werden sollen. Gut eine Stunde später raste ein SUV mit dem amtlichen Kennzeichen EL-T 2010 zum Rathausvorplatz, sein Fahrer sprang heraus, fotografierte die Kerzen (Foto) und raste flugs wieder davon (Foto); tags darauf präsentierten die „Freien Niedersachsen“ das dabei geschossene Foto wie ene Trophäe in ihrem Telegram-Kanal.
Also die Frage: Wer koordiniert die Lokalen Schwurbel-Proteste? Zwar spricht die PI von „Facebook-Gruppen“ in denen die „Spaziergänge“ angekündigt werden, tatsächlich ist aber auch hier der Messenger-Dienst „Telegram“ das zentrale Werkzeug für die, die aus dem rechten Spektrum spalten, hetzen und Falschinformationen verbreiten und ganz nebenbei auch unsere demokratisch verfasste Gesellschaft attackieren und sie abschaffen wollen.
Der Journalist Moritz Siman, ein Experte für die extreme Rechte, hat Anfang des Monats auf Twitter Zusammenhänge aufgezählt:
Sinan: „Wie erfolgreich diese Versuche außerhalb Sachsens sein werden, hängt maßgeblich vom gesellschaftlichen Umgang mit diesen ab. Es ist der Versuch der weiteren Radikalisierung eines rechten und verschwörungstheoretischen Millieus, bei denen das Corona-Thema Mittel zum Zweck ist.“
Auch Belltower.News (News-Plattform für digitale Zivilgesellschaft) widmete sich in einem langen Beitrag dem „zentrale[n] Vernetzungstool der antidemokratischen Coronaleugner:innen-Proteste“, insbesondere dem Kanal „Freie Sachsen“:
„Optisch merkt man auf den ersten Blick in den Telegram-Kanal der ‚Freien Sachsen‘ vielleicht nicht unbedingt, dass hier extrem rechte Aktivist:innen hetzen. Reichskriegsfarben fehlen, genau wie gängige rechtsextreme Codes. Die Sprache die sie in ihrem Kanal verwenden ist hingegen eindeutig. Immer stärker radikalisieren sie ihre über 100.000 Abonnent:innen. Sie bedienen eine gewaltvolle Rhetorik, die immer auf einen Kampf ‚Gut gegen Böse‘, ‚Wir gegen die‘, ‚Unten gegen Oben‘, hinausläuft. Quasi in Echtzeit posten sie Bilder und Videos von Demonstrationen. So bekommen die Abonnent:innen den Eindruck, sie seien tatsächlich die Mehrheit.“
Und im Emsland? Im Emsland hat die Polizeiinspektion Emsland/Grafschaft Bentheim „keine Hinweise“ auf eine organisierte Struktur und freut sich, dass alles „sehr, sehr friedlich“ und „ohne Zwischenfälle“ abgelaufen ist. Dass das Versammlungsrecht und die Corona-Verordnungen des Landes verletzt werden interessiert die Ordnungshüter offenbar nicht.
Dabei ordnet der niedersächsische Verfassungsschutz, dessen Präsident einmal Chef der auch für das Emsland zuständigen Polizeidirektion war, die „Freien Niedersachsen“ dem Verdachtsobjekt „Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“ zu. Die Gruppierung orientiere sich inhaltlich und in ihrem Auftreten an den „Freien Sachsen“, so der niedersächsische Verfassungsschutz auf taz-Anfrage. In den vergangenen Wochen habe sich gezeigt, dass esbei den Protestzügen immer mehr Teilnehmer*innen gebe. Rechtsextremist*innen und Reichsbürger*innen seien zwar darunter, organisierten sie aber nicht selbst. „Radikale Teile der Coronaleugner sehen Gewalt als legitimes Mittel und machen staatliche Repräsentanten verächtlich“, so der Niedersächsische Verfassungsschutz.
Noch dies: Eines vereint die Demonstrationen in Lingen, Meppen, Papenburg: Niemand will es sein, niemand möchte in Erscheinung treten, niemand den eigenen Namen in der Lokalzeitung lesen. Nicht einmal der rechtsradikale Gordon W. .
Heute soll ab 18 Uhr übrigens wieder ab Universitätsplatz eine nicht angemeldete Demonstration in Lingen stattfinden. So war es bei Telegram bereits am vergangenen Dienstag zu lesen. Vielleicht geruhen sich Ordnungsamt und Polizei dann doch einmal, tätig zu werden?
Quellen: Taz, Belltower:News, @M000X (Moritz Sinan)
Foto: RobertsBlog